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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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gar nicht besonders viel Bücher dort waren. Hier hatte sie in den letzten Wochen gemeinsam mit Tante Kuni Husserls Logische Untersuchungen gelesen. Sie befahl den beiden, sich auf das Sofa zu setzen.
    »Haben Sie Wundbenzin?«
    War nicht im Haus.
    »Schnaps?«
    Carl wußte, wo der war. In der Kredenz im Eßzimmer, unten links. Er holte eine Flasche Korn. Fräulein Stein löste vorsichtig die Verbände, wickelte die Steine in ein frisches Stück Gaze, goß Schnaps über die Wunden und zog die Verbände wieder fest. Nun reinigte sie Gesicht und Hände von Tante Franzi und Tante Kuni.
    »Ist Ihnen kalt?« fragte sie.
    »Ich schäme mich so«, sagte Tante Franzi. »Und Ihre schöne Bluse ist auch ruiniert.«
    Fräulein Stein tat, als hätte sie es nicht gehört. »Kannst du Tee kochen?« wandte sie sich an Carl. Das konnte er nicht. Sie ging in die Küche, Carl folgte ihr. Sie stellte Wasser auf und suchte in den Schränken nach Tassen und Teepulver. Er hockte sich auf einen Küchenstuhl und verschränkte die Arme auf dem Tisch. Er tat das mit Absicht, nämlich um ihr zu zeigen, daß er ruhig war, daß sie sich um ihn nicht zu sorgen brauche, daß sie sich auf ihn verlassen konnte und daß er auf ihrer Seite stand.
    »Was ist eigentlich passiert?« fragte er.
    »Sie haben sich in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden wollen«, sagte sie.
    »Und warum ist das Regal umgefallen?«
    »Es ist doch gut, daß es umgefallen ist«, sagte sie. »Sonst würden wir zwei immer noch schlafen. Möchtest du wieder hinauf ins Bett gehen?« Das wollte er nicht.
    Schließlich saßen sie alle zusammen in der Bibliothek und tranken Tee, bis es vor dem Fenster zu dämmern begann, und schwiegen oft und lang.
    »Ich bin gar nicht müde«, sagte Carl. Aber er sank doch tiefer in das Sofa hinein.
    »Bitte, erzählt niemandem etwas davon«, bat Tante Franzi.
    »Natürlich nicht«, versprach Fräulein Stein, und Carl versprach es auch.
    Fräulein Stein sagte, sie wolle jetzt das Badezimmer aufräumen und putzen. Damit man nichts sieht, wenn das Dienstmädchen kommt. Man könne ja behaupten, das Regal sei einfach so umgefallen.
    »Ich helfe«, sagte Carl.
    »Nein, das tust du nicht, du wirst für etwas anderes gebraucht«, ordnete sie an. »Weißt du, wo der Bäcker ist?«
    »Er weiß es«, sagte Tante Kuni leise. Sie hatte kein einziges Mal dem Fräulein Stein in die Augen gesehen und auch ihrer Mutter nicht und auch Carl nicht.
    Carl zog Hose und Jacke über seinen Schlafanzug, Fräulein Stein gab ihm Geld, und er ging in der frischen Morgenluft über den Hainholzweg hinunter zur Bäckerei Kasimir, wo man ihn inzwischen gut kannte, weil er doch jeden Tag dort Brötchen holte, nur eben nicht so früh am Morgen. Das Licht am Osthimmel weckte ihn auf, und er fühlte sich sogar fröhlich. Er schlug einen kleinen Umweg ein, schlenderte an der Sonne-Mond-und-Sterne-Villa vorbei, die er für sich so nannte, weil auf die Fassade der Sternenhimmel gemalt war. Er wollte nicht mehr weglaufen. Der Gedanke kam ihm kindisch vor. Und was er im Badezimmer gesehen hatte, kam ihm lange vergangen vor und als wäre es ihm bloß erzählt worden, als wären alle Beteiligten andere gewesen. Seine Mutter fiel ihm ein, aber er hatte kein Heimweh. Sie fiel ihm nur ein. Es tat ihm leid, daß er ihr von dieser Nacht nicht erzählen durfte, von Tante Franzis Geheul, das auch irgendwie komisch gewesen war, und dem Blutstreifen auf Tante Kunis Bauch und dem roten Wasser in der Wanne. Er konnte sich die Augen seiner Mutter denken, die sie aufreißen würde, aber nicht nur gespielt, wie es seine Großmutter tun würde. Um diese Zeit lag sie sicher noch im Bett. Er stellte sich die Wohnung in Meran vor, die kurzen, heiter weißen Vorhänge in der Küche, die wie kurze Hosen waren. Das hatte seine Mutter gesagt und hatte draußen auf das Sims Tontöpfe mit Petersilie und Schnittlauch und Basilikum gestellt, das sei, wie wenn einer mit kurzen Hosen durch eine Wiese schreite. Und er schritt auf dem Bürgersteig zur Bäckerei Kasimir hinunter, wo es manchmal Gefrorenes mit einer Waffel gab, Erdbeere oder Kirsch oder Vanille. Das Wort Bürgersteig hatte er nicht gekannt, das hatte er erst in Göttingen gehört. Es gefiel ihm. Ein Steig, auf dem der Bürger geht, auf dem ihm die frischen Brötchen entgegendufteten. Er freute sich darauf, wenn ihn seine Mutter abholte. Er würde ihr die Stadt zeigen, er würde sagen: Wir gehen auf dem Bürgersteig. Er wußte, daß alles gut war; daß

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