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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ihrem Gesicht, und nun trat er doch neben sie und schaute ebenfalls ins Badezimmer. Das hohe Regal, in dem die Handtücher und die vielen Toilettensachen aufgereiht waren, war umgefallen und auseinandergebrochen, die Regalbretter lagen verstreut auf den Kacheln, dazwischen Scherben, Fläschchen, Cremedosen, Bürsten, Kämme, Wattebäusche, Seifenschalen, Lockenwickler, eine Brennschere. Tante Kuni stand nackt mitten im Badezimmer, ein Streifen Blut über der Brust, dem Bauch, der Leiste, wo er auf der nassen Haut ausebbte. Sie hatte ein Handtuch um einen Unterarm gewickelt, der Stoff war blutdurchtränkt, Blut tropfte auf den Boden. Die Badewanne war angefüllt mit rotem Wasser. Darin saß Tante Franzi, auch sie nackt, schreiend, einen Arm erhoben, aus dem Puls quoll Blut, färbte den Arm auf seiner ganzen Länge bis in die Achselhöhle. Als Tante Kuni das Fräulein Stein und neben ihr Carl im Schlafanzug sah, fing auch sie an zu schreien. »Mama! Mama! Mama!« schrie sie. »Helft der Mama!« Fräulein Stein schob mit dem Fuß die Regalbretter beiseite, warf Tante Franziska ein Handtuch zu. »Ruhe!« herrschte sie die beiden an. Sie hob zwei Glasfläschchen auf, die nicht zerbrochen waren, drückte sie Carl in die Hand. »Laß kaltes Wasser darüberlaufen!« Sie half Tante Franzi aus der Wanne, drückte das Handtuch auf ihren Unterarm. »Sind die Flaschen kalt? Füll sie mit kaltem Wasser auf!« Sie betrachtete die Wunden über den Handgelenken. Tante Kuni hatte nicht so tief in die Haut geschnitten wie ihre Mutter. Fräulein Stein preßte die kalten Fläschchen, die ihr Carl reichte, auf die Wunden. »Halten Sie das, drücken Sie das fest darauf, und heben Sie den Arm über den Kopf!« Tante Franzi hatte zu schreien aufgehört, sie setzte sich auf den Rand der Badewanne. Blaue Äderchen verästelten sich über ihre Oberschenkel; im Badezimmerlicht sah die Haut gelb aus. Tante Kuni setzte sich neben ihre Mutter, blickte apathisch vor sich nieder, auch sie den Arm über ihrem Kopf.
    »Das hast du gut gemacht«, sagte Fräulein Stein zu Carl. »Weißt du, wo das Verbandszeug ist?« Auf dem Boden lag eine große Blechdose, auf die ein rotes Kreuz gemalt war. »Lauf vor die Tür, lauf schnell, hol zwei runde Kieselsteine vom Weg herauf. Schnell, so groß wie eine Kastanie, rund müssen sie sein, keine spitzen!«
    Die Haustür war abgesperrt, der Schlüssel steckte nicht. Panik schoß in ihm hoch. »Der Schlüssel!« rief er. »Wo ist der Schlüssel?« Zwischen der Tür und dem Lichtkasten hingen Schlüssel, ein Bord voll. Er war zu klein, um sie zu erwischen. Er lief ins Eßzimmer, wo immer noch die Teller und Gläser vom Abend standen, schob einen Stuhl auf den Gang hinaus und pflückte alle Schlüssel von den Haken. »Ich weiß nicht, welcher der richtige ist!« rief er. Der erste paßte.
    Draußen wehte die Augustluft lau an seine Schläfe, die Tanne, die dicht neben der breiten Steintreppe bis zum Giebel des Hauses emporwuchs, roch stark nach Harz, was ihm bisher nie aufgefallen war. Er wollte weglaufen. Nun war er sich nämlich gewiß, daß in dem Haus in seinem Rücken das Glück fehlte, über das man sich sonst überall freuen durfte. Er kniete nieder und wischte mit der Hand über den Kies. Es war zu dunkel, um mit den Augen die Steine zu unterscheiden. Er wußte nicht, wofür das Fräulein Stein zwei runde kastaniengroße Kiesel brauchte, aber er wußte, sie brauchte seine Hilfe.
    Die Tanten hatten sich inzwischen ihre Bademäntel übergezogen. Ihre Hände waren wie rot lackiert, die Gesichter verschmiert. Auf dem Boden waren blutige Fußabdrücke, wäßrige Blutpatzen. Das Blutwasser in der Wanne rann ab. Auch die weiße Bluse von Fräulein Stein war blutverschmiert.
    »Wasch die Steine ab, Carl Jacob!« sagte sie, und er tat es.
    Sie wickelte die Steine in Gaze und drückte sie oberhalb der Wunden auf die Haut, dort, wohin Tante Franzi und Tante Kuni die Fläschchen mit dem kalten Wasser preßten. Die Blutung hatte nachgelassen, bei Tante Kuni kam gar kein Blut mehr. Fräulein Stein wickelte den Verband über die Steine und zog ihn straff an, erst bei Tante Franzi, dann bei Tante Kuni.
    »Ich werde gehen und einen Arzt holen«, sagte sie.
    »Tun Sie das nicht«, bat Tante Franzi matt. »Sie haben uns kolossal fachmännisch behandelt. Es genügt. Es genügt wirklich. Bitte!«
    Als hätte sie das Haus requiriert, führte das Fräulein Stein die beiden Frauen in den Raum, der die Bibliothek genannt wurde, obwohl

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