Abendland
verwechseln, streckt sich das Fragezeichen des Konjunktivs allmählich zum Rufzeichen des Indikativs, so daß das Erinnerte bald alles andere als ein Bild aus der Vergangenheit darstellt, sondern nur noch die Nöte der Gegenwart spiegelt. Die Vergangenheit ist der Laden des Teufels, sagt Ralph Waldo Emerson, wenn ich mich recht erinnere, und der Teufel liefert jede Ware, die gewünscht wird; was ja wohl heißen soll, daß Erinnerungen immer lügen, weil sie aus dem Fundus des Lügenkönigs stammen … – Ich spreche nun von mir, Sebastian Lukasser, Vorwort und Vorsicht gelten meinen Erinnerungen. Daß ich so ausführlich über die Begegnung zwischen Carl und Edith Stein im Sommer 1914 berichte, hat auch – vor allem, möchte ich sagen – seinen Grund in meiner eigenen Biographie – und in der Biographie meiner Mutter.
Über meine Mutter habe ich bisher wenig erzählt. Das bedrückt mich, weil es ungerecht ist; was es zu erzählen gibt, bedrückt mich allerdings noch mehr. Bei unserem Gespräch nach Carls Beerdigung – bei welcher Gelegenheit sie übrigens zum erstenmal ihren Enkel David sah –, fragte sie mich, wie meine Gedanken an sie aussähen, und weil sie mich ausdrücklich bat, ehrlich zu sein, antwortete ich ihr, ich könne nicht anders an sie denken als entweder mit einem schlechten Gewissen oder mit Wut und Fassungslosigkeit, meistens mit einem Gemisch aus allem, wobei eins dem anderen Munition liefere. Sie blickte an mir vorbei auf den Zierlorbeer, der innen an der Friedhofsmauer wuchs, und sagte: »Dafür bitte ich dich um Verzeihung.« Etwas Ähnliches hätte ich mir denken können. Ich war trotzdem nicht darauf gefaßt gewesen. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg und die Tränen aus den Augen. David hat mich umarmt. Ich sagte zu ihr: »Ich danke dir, Mama. Mein Sohn hat mich umarmt. Das hast du bewirkt.« Was ein unsäglich querulantisches Zeug war und wofür ich mich auf der Stelle auch unsäglich schämte. Sie stand vor uns, barfuß in Sandalen, in ihrem braunen Ordenskleid, das mir wie ein Manifest gegen mich vorkam, das schwarze Skapulier über Kopf und Schultern, die Haut unter den Augen in einem unglücklichen körnigen Rosa, und sagte ohne Regung in der Stimme: »Du bist ein Zyniker geworden, Sebastian. Warum?« Was ich gesagt hatte, war vielleicht blöde, es war hilflos bockig, aber zynisch war es nicht gemeint gewesen. David hatte es bestimmt nicht so verstanden; nun blickte er mich an, und in seinen Augen war Abscheu. Und ich war wieder einmal von meiner Mutter vor drei Möglichkeiten gestellt worden: Entgegnung, Bestätigung oder Schweigen. Egal, wofür ich mich entschied, ich würde als ein Schuldiger zurückbleiben …
Es gibt nichts Richtiges im Falschen, deshalb war immer alles falsch, was sich zwischen meiner Mutter und mir abgespielt hatte; wobei ich mir die Schuld daran anrechne – was kein großsprecherisches An-die-Brust-Schlagen ist, sondern traurige Konsequenz aus der Tatsache, daß ich mir unserer neurotischen Beziehung stets bewußt war, sie sich aber nicht; daß es also immer bei mir gelegen hätte, steuernd einzugreifen. Wenn sie mich dennoch um Verzeihung bat, dann, weil sie lediglich vermutete, irgendwann einmal in unserer Vergangenheit einen Fehler begangen zu haben, eine Art Grundfehler vielleicht; sie erinnerte sich zwar nicht daran, wollte sich aber vor dem Privileg des Verletzten, auf alle Fälle recht zu haben, beugen, und zwar in Demut. Unsere Beziehung war nicht so geworden, weil einer von uns irgendwelche Fehler begangen hatte. Versäumnisse waren es. Es hat etwas Indirektes, Gespreiztes, Geheucheltes an sich, zu bereuen, daß man etwas nicht getan hat.
Meine Mutter gehört dem gleichen Orden an, in den Edith Stein nach ihrer Konvertierung zum Katholizismus eingetreten war – dem teresianischen Karmel –, und es war Edith Steins Autobiographie gewesen, die zehn Jahre nach dem Tod meines Vaters den letzten Ausschlag dafür gab, daß sie allem gesellschaftlichen Leben den Rücken kehrte – und als wäre das nicht schon genug, ihre Oberen außerdem bat, sie in ein Land zu versetzen, dessen Sprache sie nicht verstand, so daß die gewährten Ausnahmen des Schweigegelübdes ihr nur ja keine Erleichterung brächten. Sie lebt heute im Monastère du Carmel in Fouquières les Béthune nahe der belgischen Grenze, bewohnt dort eine Zelle von drei Metern Länge und zwei Metern Breite, in dem es nur wenige Gegenstände gibt, die sie an ihr Leben davor erinnern,
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