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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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nur die Scheibe, auf der wir beide uns drehten. Daß wir keinen Mann hatten. Daß wir uns nicht einmal mehr einen wünschten. Die Sterne am Nachthimmel waren uns chaotisch ausgestreute Beweise eines kosmischen Irrsinns. Mit gar nichts waren wir verwachsen, mit unseren alten Wünschen nicht mehr, nicht mit irgendeiner gesellschaftlichen Rolle, nicht einmal mit der häuslichen Möblierung. Kein Fetzen Anmut war uns geblieben.«
    So saßen Mutter und Tochter nebeneinander und beschlossen, es zu tun. Diesmal unbedingt. Nicht getrennt in getrennten Zimmern. Zusammen. Ohne hoffnungsvolle, pathetische Pose. Einfach wie eine lästige Erledigung. Jetzt. Nicht morgen. Nicht irgendwann. Jetzt.
    »Und dann?« fragte Pater Frederik.
    »Dann«, sagte Kuni Herzog, »stand auf einmal das Fräulein Stein im Zimmer.«
    »Auf einmal stand sie im Zimmer? Was hat sie geweckt?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Sie meinen, sie hat Ihre Not und die Not Ihrer Mutter gespürt?«
    »Ja, genau das meine ich.«
    »Und was sagte sie?«
    »Gar nichts. Sie stand einfach nur in der Tür. Trug die Kleider, die sie getragen hatte. Als wäre sie gar nicht im Bett gewesen. Die Arme hingen an ihren Seiten herab. So stand sie. Eine Minute vielleicht. Blickte uns an, drehte sich um und verließ das Haus. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen.«
    »Aber ihr Erscheinen hat etwas bewirkt, das wollen Sie sagen? Bei Ihnen und Ihrer Mutter.«
    »Ich möchte mich nicht aufspielen, das glauben Sie mir doch. Ich weiß aber: Das Fräulein Stein hat uns geheilt. Meine Mutter und mich.«
    »Was meinen Sie mit geheilt?«
    »Daß kein Wille zum Tod mehr in uns war.«
    »Sie meinen, das war ein Wunder?«
    »Es war ein Wunder.«
    »Das kann man, denke ich, nicht so ausdrücken.«
    »Ich will das nicht beurteilen«, sagte Kuni Herzog. »Helfen Sie mir bei einer besseren Formulierung. Ich bin eine alte Schwarte und könnte bestenfalls Shakespeare zitieren.«
    »Wie meinen Sie?«
    »Es war ein Scherz.«
    »Sie wissen«, sagte Pater Frederik, »die Kongregation ist ausschließlich an einem Wunder interessiert. Ein Wunder muß leider unbedingt sein.«
    »Es war gewiß ein Wunder«, wiederholte Kuni Herzog.
3
    Carl kommt in den Erinnerungen von Kuni Herzog gar nicht vor. Pater Frederik Braak ging davon aus, daß an jenem Abend nur die drei Frauen anwesend waren – Franziska Herzog, ihre Tochter Kuni und Edith Stein. Seine Tante, sagte Carl, habe das ihm gegenüber damit gerechtfertigt, daß die Erwähnung seiner Anwesenheit die Sache ihrer Meinung nach nur verkompliziert hätte. Was für eine Sache denn, habe er sie gefragt. Sie meine damit ihren Beitrag zur Seligsprechung des Fräulein Stein. Kuni Herzog schämte sich vor Pater Frederik Braak, daß sie und ihre Mutter ein Kind in ihre Eskapaden hineingezogen, daß sie in ihrem einsamen Egoismus keine Rücksicht genommen hatten. Sie fürchtete, damit die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente aufs Spiel zu setzen. Soll man im Prozeß um eine Seligsprechung jemanden als Zeugen vorführen, der nicht einmal die primitivste menschliche Verpflichtung, nämlich die gegenüber einem Kind, zu erfüllen gewillt oder in der Lage ist? Deshalb hat Kuni Herzog die Geschehnisse der Nacht »verkürzt«, wie sich Carl mit gekünstelter Bitterkeit kichernd ausdrückte.
    »Übrigens«, eröffnete er seine Version der Geschichte, »ist Edith Stein nicht aufgewacht, weil sie im Schlaf die Not meiner Tanten gespürt hat. Das ist Quatsch. Sie ist aus dem gleichen Grund aufgewacht wie ich. Und ich war vor ihr unten.«
    Carl erwachte von einem lauten Krach. Irgend etwas war umgefallen. Glas war zersplittert. Jemand schrie. Er lief über die Treppe hinunter, hinein in das langgestreckte Falsett von Tante Franzi, das nun das Haus erfüllte. Es drang aus dem Badezimmer. Hinter sich hörte er Fräulein Stein, sie rief seinen Namen. Sie war schnell in ihre Sachen geschlüpft, und während sie über die Treppe hinunterlief, knöpfte sie sich die Ärmel ihrer Bluse zu. Unten im Flur erwischte sie ihn, hielt ihn fest. Er solle sich nicht von der Stelle rühren, befahl sie ihm. Sie sprach knapp, bewegte sich kantig, als wäre sie in einem dienstlichen Einsatz und nicht erst vor einer halben Minute aus dem Schlaf gerissen worden. »Tu, was ich dir sage, ich werde dich brauchen!« Sie drückte ihn in die Nische, wo der Schirmständer stand. Hier solle er auf sie warten, legte ihren Finger auf seinen Mund. Sie riß die Badezimmertür auf. Carl sah das Entsetzen in

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