Abendland
Gesicht habe sich hochmütige Verachtung mit einer Art ängstlicher Abwehr sonderbar gemischt, erzählte sie. Sie nickte, nickte immerzu, als wäre es ein Tick. Und Kuni sah, wie ihre Mutter vor Erregung zitterte.
»Was willst du wissen, Edithchen?« gurrte sie. »Frag alles, ich werde nicht den Mund halten.«
Kuni Herzog: »Ich fuhr auf: ›Mutter, es ist genug! Es ist genug!‹ – Es war mehr als genug. Ich rechnete damit, daß sie jeden Augenblick auf die Knie sinken und weinen würde. Ist schon vorgekommen, ist schon vorgekommen! Meine Mutter hatte ein sehr unvorteilhaftes Weinen, das wollte ich Fräulein Stein ersparen. Und wollte es auch meiner Mutter ersparen. Und auch mir. Ich sagte: ›Fräulein Stein, es ist spät, darf ich Sie auf Ihr Zimmer führen?‹ Sie erhob sich sofort von ihrem Sessel und folgte mir. Meine Mutter lief uns nach, und als wir beim Stiegengeländer waren, rief sie: ›Fräulein Stein, wissen Sie eigentlich, daß meine Tochter in Sie verliebt ist?‹«
Sie habe nicht einschlafen können, erzählte Kuni Herzog Pater Frederik Braak aufs Tonband. So gegen drei sei sie aufgestanden und im Dunkeln durch das Stiegenhaus hinunter zum Schlafzimmer ihrer Mutter geschlichen. Sie habe ihr Ohr an die Tür gelegt und das Schluchzen gehört. Leise öffnete sie die Tür. Die Nachttischlampe gab ein mattes Licht, die Mutter hatte ihr Kleid ausgezogen und über den Lampenschirm geworfen. Sie saß im Unterrock auf der Bettkante, Ellbogen auf den Knien, das Gesicht zwischen den Händen zu einer komischen kleinen Fratze verschoben.
»Wie sind wir?« jammerte sie. »Kuni, wie sind wir?« Ihre Stimme bahnte sich einen Weg durch die Tränen. »Kuni, wie sind wir nur?«
Kuni blickte auf die talgweißen Striche ihrer Scheitel. Die gerundeten Schultern wirkten gar nicht mehr aufreizend und schurkisch wie während des Abends, als sie ihre anzüglichen Vorträge gehalten hatte. Wie ein vor dem Ballsaal sitzengelassenes, erkältetes Mädchen kam ihr die Mutter vor.
»Wir zwei wissen genau, wie wir sind«, sagte Kuni.
Da barst das verspannte Gesicht unter den Tränen, und der lange Kummerfaden spulte sich ab. Kuni wartete. Das Weinen dauerte und würde wohl länger dauern. Sie ekelte sich ein wenig vor ihrer Mutter. Vor ihrer Unterlippe zum Beispiel – weich und schwer, die nach vorne fiel, wenn sie den Kopf neigte, und die Zähne des Unterkiefers freigab, das Zahnfleisch, mehr blau als rot. Auf dem Bett lag ein Blatt Briefpapier, zur Hälfte beschrieben. Kuni hatte nicht die Geduld, die kleinlich verkrampften Buchstaben zu entziffern. Ähnliche Briefe hatte ihre Mutter schon ein halbes Dutzend geschrieben. Sie setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Sie hätte ihr eine deutlichere Antwort geben sollen. Aber es bestand kein ausreichender Grund für ein Resümee, sie war zweiunddreißig, und es war die Erfahrung nicht wert gewesen. Sie sah sich im Spiegel, der dem Bett gegenüber an der Wand hing – so oft hatte sie ihrer Mutter gesagt, es sei eine tagverderbende Idee, dorthin einen Spiegel zu hängen –, ihr Gesicht hatte einen Ausdruck steinerner Nichtüberraschung. Sie wischte mit der Hand über die Schulter der Mutter, die im Spiegelbild durch ihre eigene Schulter verdeckt war. Sie hatte kein Gespür mehr für Fairneß, zu müde war sie, sogar für das schlechte Gewissen. Wer nicht an Gott glaubt, tut selbst in der Not gut daran, nicht zu ihm zu beten. Es reichte nicht einmal für eine metaphysische Phantasie, wie sie Vierzehnjährige einander ins Poesiealbum schreiben. Sie hatte auch kein Bedürfnis nach klarer Sicht auf ihr Gewordensein, und die philosophischen Begriffe, die sie in den letzten Wochen in ihrem Cerebrum gehortet hatte, boten keinen Trost, schürten aber auch keinen kathartischen Schmerz. Gedanken, die gar nichts zu tun hatten mit dem, was sie hier vor sich sah, tappten in ihrem Kopf herum wie kranke Vögel. Daß es schön gewesen wäre, ein Studium beendet zu haben; daß die Wohnung in der Alleestraße einmal wenigstens ordentlich durchgeputzt werden müßte; ob ein Bajonett in erster Linie nur Zierde oder doch zum Töten da sei … – Das Weinen ihrer Mutter endete mit einem leisen, spitzen Schrei. »Der war wie eine glühende Nadel, wie um eine Öffnung zu schaffen, durch die das Leben einströmen könnte. Falls das Leben dazu Lust haben würde.«
Kuni Herzog zu Pater Frederik Braak: »Nein, ich hatte kein Mitleid mit ihr. Sie hatte ja auch keines mit mir. Ich sah
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