Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
nicht feststellen, daß sie sich über mein Kommen freute. Sie eröffnete mir, worum es ging: nämlich, daß sie in einen Orden eintreten wolle und daß sie dafür meine Zustimmung brauche, und zwar schriftlich.
    Damit ich hätte glauben können, dies sei ein Witz, hätte meine Mutter wenigstens einmal in ihrem Leben einen Witz machen müssen. Ich fühlte mich von Carl hereingelegt – daß er mich nicht vorgewarnt hatte, daß er nicht nach Nofels gekommen war, um mich gegen diese Verrücktheit zu unterstützen. Aber er hätte mich ja gar nicht unterstützt! Er unterstützte nämlich meine Mutter in ihrem Entschluß! Noch am selben Abend rief er an. Und zwar so vehement unterstützte er sie, als ginge es dabei um die Substanz seines eigenen Lebens. Meine Mutter befand sich bereits in jenem Land, in dem es keine Aufschreie, kein Entsetzen, keine herzzerreißende Trauer, kein Weinen und kein Fluchen gibt, nur Hingabe an das, was ist, weil man weiß, woher es kommt.
7
    »Im November 1917 bekam ich einen Brief von Edith Stein nach Wien«, fuhr Carl in seiner Erzählung fort.
    Das Kaminfeuer hatten wir ausgehen lassen, ich hatte ohnehin nur zwei Handvoll Spreißel angefacht, der Föhn drückte den Rauch in den Abzug. Als ich auf die Terrasse getreten war, um einen Armvoll Birkenscheite zu holen, war es draußen bereits so warm wie im Haus, das Feuer hätte nur der Gemütlichkeit gedient, nicht, um uns zu wärmen. Ich ließ die Tür offen, und wir genossen den falschen Frühling, bis es doch etwas kühl wurde – da war es bald Mitternacht. Die kleine Stunde Schlaf am Nachmittag nach unserem Ausflug zu Margaridas Grab hatte mich erfrischt und gekräftigt wie eine komprimierte Kur; außerdem wirkte Carls Vitalität ansteckend auf mich. Ob diese jugendliche Energie pharmazeutischen Quellen entsprang oder allein seinem lebensgierigen Geist oder ob sie das merkwürdige Phänomen bestätigte, daß die Erinnerung nicht nur Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit transportiere wie der Postbote Päckchen und Briefe, sondern den sich Erinnernden immer auch zurückverwandle, das ließ sich nicht entscheiden – wenn ich Carl reden hörte und dabei die Augen schloß, war er der ewig altersgleiche Freund, als der er mich durch mein Leben begleitet hatte.
    Er bat mich, ihm die Zigarette anzuzünden, und schlug vor, daß wir sie gemeinsam rauchen. Das wollte ich nicht.
    »Ich habe es mir so mühsam abgewöhnt«, sagte ich.
    Ich solle mich nicht so sehr vor den Dingen fürchten, antwortete er, die Dinge seien wie Hunde, sie würden frech, wenn sie einen vor sich haben, der vor ihnen Angst hat.
    Der Duft der Zigarette verband sich mit der Föhnluft von draußen zu einem Gemisch, das mich nur noch euphorischer werden ließ. Solche Hochstimmungen seien immer egozentrisch, sagt Robert Lenobel, und während Carl von seinen Erlebnissen als Achtjähriger in Göttingen erzählte, war mir, als erzählte er auch von mir, als borge er sich die Aura und die Atmosphäre meiner Erinnerungen, um sie seinem kleinen Vorläufer umzulegen. Der Geruch der Bratäpfel, der seine Erinnerungen hätte unterstützen sollen, war realiter in aufdringlicher Weise störend gewesen; als wir gegessen hatten, räumte ich das Geschirr in die Küche und schob die Reste in die Toilette und wusch die Teller ab, um jede Spur von dem Zimtgeruch zu tilgen, und ich dachte, Carl empfand einen ähnlichen Widerwillen gegen diese Vorweihnachtlichkeit, und die Zigarette hatte in erster Linie den Zweck, neue olfaktorische Voraussetzungen zu schaffen. Er wünschte sich, daß ich ihn für eine Minute hinaus auf die Terrasse schiebe. Dort legte er den Kopf in den Nacken und schloß die Augen, und sein Gesicht entspannte sich, und er sah glücklich aus. Er liebte die warmen Jahreszeiten. Ein frommer Gedanke kam in mir hoch, nämlich daß ihm im Februar ein kleiner Frühling geschickt worden war, weil er den großen nicht mehr erleben würde.
    »Mir«, fuhr er fort, »einem Elfjährigen, schrieb sie: ›Ich kenne sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.‹ Adolf Reinach war tot. Er war einer der achtzigtausend Männer, die in der Panzerschlacht bei Cambrai in Flandern gefallen waren. Reinach war ihr Mentor gewesen, ihr Führer durch die Welt der Phänomenologie, ihr Vertrauter, ihr Freund – ihr Führer durch die Welt. Der, der mit Tante Kuni um seine Erstausgabe von Hegels Logik gewettet hatte, daß sie im ganzen Reich keine bessere Tutorin als das Fräulein Stein finde.

Weitere Kostenlose Bücher