Abendland
nicht«, antwortete sie. »War ich überhaupt jemals dort?«
»Vielleicht täusche ich mich ja auch«, sagte ich.
»Vielleicht täuschst du dich ja«, sagte sie.
Nein. An einem Freitag nachmittag, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie mich an ihre Brust gedrückt, und ich hatte mich nicht erinnern können, wann das zum letztenmal geschehen war. Sie fragte mich, ob ich wisse, daß sie Papa liebhabe. Ja, sagte ich, das wisse ich genau. Es ist allerdings kein normales Liebhaben, dachte ich, so eines wie bei den Eltern meiner Schulkameraden, dafür aber ein besonders hartnäckiges. Ich war mir auch sicher, daß lange nicht jeder seine Eltern für besondere Menschen hielt, im Gegenteil, daß den meisten die grausame Tatsache vor Augen gestellt war, daß ihre Eltern bloß so dahinflossen in der Zeit und in der Menge der anderen. Ich hatte Eltern, die unverwechselbar waren auch für einen Fremden, auch bei nur kurzer Anhörung ihrer Geschichte, auch in einer Reihe von Millionen, zum Beispiel in Wien. Und es war nicht ausgemacht, ob dieser Glanz allein meinen Vater und sein Genie als Quelle hatte und meine Mutter bloß den Rundumstrahl abbekam oder ob nicht in ihr der ursächliche Funke brannte. An diesem Freitag abend im frühen Herbst hüpfte sie mit mir durch unseren Wohnungsschlauch von der Waschküche in die Küche und weiter ins Wohnzimmer und ins Schlafzimmer, und in meinem Zimmer war kehrt und wieder zurück im Hoppla-hopp-Galopp. Ob ein Brief von Papa gekommen sei, fragte ich, weil: Warum sollte sie sonst tanzen? »Der schreibt doch nicht«, sagte sie. »Er schreibt nicht, weil er sich für seine Rechtschreibfehler schämt.« »Aber das ist doch wurscht«, sagte ich, »es lesen doch eh nur wir den Brief.« Sie dachte gar nicht an ihn. Und daß sie sich von mir ihr Liebhaben versichern hatte lassen, öffnete dieses Kapitel nicht, sondern sollte es schließen – nicht ganz, nicht ein für allemal, natürlich nicht; aber für die weitere Zeit, in der mein Vater nicht hier war.
»Es gibt jemanden, der dich kennenlernen möchte«, sagte sie plötzlich. »Ich habe ihm erzählt, wie sehr du dich über die Zeitungen mit den Sportbildern gefreut hast.«
Ich spürte, wie sich meine Kopfhaut zusammenzog, und in ihrem Gesicht las ich, daß sie mein Entsetzen richtig einschätzte.
»Halt mir ja keine Predigt«, sagte sie.
»Gäb’s einen Grund dafür?« fragte ich.
»Jawohl«, hackte sie zurück. – Und aus war’s mit dem Tanzen.
Warum er mich – a – kennenlernen wollte und warum – b – das ausgerechnet im Kunsthistorischen Museum sein sollte, wer sollte das bitte verstehen? Wenn er tatsächlich etwas mit ihr hatte – also, ich an seiner Stelle würde alles darangesetzt haben, mich nicht kennenzulernen. Daß es im Museum sein sollte, kam mir wie eine Demütigung unserer Familie vor. Er wollte sich mir in diesem Prachthaus präsentieren. Als ob es ihm gehörte. Ich hatte gelesen, daß bei den Löwen der neue Mann als erstes den Kindern des Verjagten das Genick zerbeißt. Die Löwenmutter sitzt dabei und schaut zu, manchmal gähnt sie sogar.
»Ich werde nicht mitgehen«, sagte ich.
Sie: »Ich befehle es dir!«
Ich: »Du kannst mir nichts befehlen.«
Sie: »Würdest du mich jemals schlagen?«
Ich: »Das kommt darauf an.« Und war draußen zur Tür.
Und kam erst in der Nacht wieder zurück. Weil ich mich nicht durch ihr Schlafzimmer schleichen wollte, legte ich mich im Wohnzimmer auf die Couch. Am nächsten Tag, Samstag, frühstückten wir schweigend. Und sonst war nichts Gemeinsames. Am Sonntag rannte ich noch vor dem Frühstück aus dem Haus. Trieb mich in der toten Stadt herum bis in den Nachmittag, und närrisch vor Hunger, zur festgesetzten Zeit, um fünfzehn Uhr, fand ich mich auf dem Maria-Theresia-Platz zwischen dem Naturhistorischen und dem Kunsthistorischen Museum ein. Schließlich bezahlte ich mit meinem Taschengeld das Eintrittsgeld und eilte durch die unmenschlich und übermenschlich hohe Halle und über die Stufen hinauf, wo beim ersten Absatz ein marmorner Theseus gerade im Begriff war, einen Kentauren zu erledigen. Lief im ersten Saal an den Breughels vorbei, die ich von Bildern in der Straßenbahn kannte, vorbei an dem grausigen abgeschlagenen Haupt der Medusa mit den Schlangen und Nattern und Würmern im Blut, vorbei an dem von Pfeilen durchlöcherten Mann, der meinen Namen trug – ein Pfeil mitten durch den Kopf, beim Hals hinein, bei der Stirn heraus, und trotzdem
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