Abendland
Der, der gesagt hatte, er müsse nicht in den Krieg, er dürfe . Merkwürdigerweise war die Kriegsbegeisterung unter den Philosophen besonders groß gewesen. Und die Göttinger Phänomenologen übertrafen darin noch ihre Kollegen. Ich weiß nicht, woran das lag. Der Brief war an mich adressiert, aber sie sprach nicht mit mir, natürlich nicht, ich nehme an, sie hat mit ihrem Herrgott gesprochen oder mit ihrer Philosophie. Welche Ehre für mich! Natürlich war ich völlig überfordert. Der größte Teil des Briefes bestand aus Fragen. Der Tod als Kulturprodukt? Im Gegensatz zum Tod als einem natürlichen Ereignis? Der Tod, von der Natur vertrauensvoll in unsere Hände gelegt? Damit wir ihn von nun an verwalten? Für ihn Sorge tragen? Interessant für einen Phänomenologen! Dem Tod wäre das Rätselhafte, das Unheimliche, das Mysteriöse, das Religion- und Philosophiestiftende genommen. Allerdings auch jeder metaphysische Sinn. Aber wenn wir einfach auf die Metaphysik pfeifen? Und uns den Sinn nach Plan selber zusammenbasteln? Die Philosophie als Produktionsstätte von Sinn mit dem Hauptwerk in Göttingen. Sinn, den jeweiligen Lebensumständen angepaßt. Maßgeschneiderter Sinn sozusagen. In gereimter Form womöglich. Gemalt und massenhaft gedruckt. Zum Beispiel in der Illustrirten Geschichte des Weltkrieges . In der Septemberausgabe 1914 konnte man sich in der Mitte dieses Blattes eine prächtige Doppelseite ansehen: im Hintergrund ein brennendes französisches Dorf, ein wabernder, orange-roter Himmel, in der Mitte Kaiser Wilhelm II., in einem Auto stehend, ihm gegenüber sein Sohn, der Kronprinz gleichen Namens, hoch zu Roß, ein Schimmel muß es sein, Berichterstattung und Siegmeldung vor dem Oberkommandierenden der deutschen Truppen, rechts und links ein paar Feldgraue, die uns ihre grauen Hosenböden zeigen, und vorne drei französische Gefangene, einer ein Afrikaner, staunend über so viel deutsche Überlegenheit. Ich habe mir bei meiner Abfahrt aus Göttingen von meiner Großtante die Zeitschrift kaufen lassen, und während der Fahrt nach München und am nächsten Tag von München nach Wien habe ich über diesem Gemälde gehockt und geträumt, bis es mir meine Großmutter verboten hat. Im Vordergrund lag ein Tornister auf dem Weg. Wem gehörte der? Das hat mich beschäftigt. Und der orangerote Himmel hat mich beschäftigt. Was brennt denn hier so gut? Und auf jeder Seite: ›Deutschland, Deutschland über alles …‹ Und noch eines habe ich mir gemerkt: ›Nun kommen wir Jungen! / Mit ehernen Zungen / verkünden wir Krieg. / Wir kennen das Hassen! / Aus unseren Massen / Wachse der Sieg.‹ In Wahrheit war es bereits vorbei mit der Begeisterung. Die oberste Kriegsführung brauchte dringend Helden. Der Held erhebt das Herz des Volkes. Viele Helden erheben viele Herzen. Das ist eine einfache Rechnung. Und wenn die Helden jung sind, um so besser. Und als hätte man das Gedicht in der Wirklichkeit nachstellen wollen, wurde in Langemarck einem Reservekorps, bestehend zum größten Teil aus unerfahrenen Gymnasiasten und Studenten – auch ein Haufen Göttinger dabei –, der Befehl erteilt, eine Hügelkette zu erstürmen, wo britische Söldner in Gräben lagen und mit ihren Maschinengewehren alles niedermähten, was sich vor ihnen bewegte. Allein am ersten Tag fielen zweitausend von diesen jungen Männern. Das halbe philosophische Institut war weg. Nun wurde die Operation abgebrochen. Sie hatte weder strategisch noch taktisch Sinn gehabt. Ihr Zweck war es einzig und allein gewesen, Helden zu produzieren. Das war gelungen. Drei Jahre später, als Adolf Reinach fiel, hat keiner mehr gejubelt. Und von Helden hat keiner mehr gesprochen. Nur darauf gewartet hat man, daß die Erde endlich ihr Maul schließen möge. Vierzigtausend auf jeder Seite in dieser einen Panzerschlacht! Es gibt Menschen, die setzen alles in den Sand, die sind böse, und sie machen sogar im Sinne des Bösen alles falsch, aber sie gelten als zuverlässig, selbst ihre Gegner sind beruhigt, wenn sie die Dinge in die Hand nehmen, denn man traut ihnen zu, im Falschen das Richtige zu tun. Sie gelten als tapfer und sind feige, als uneigennützig und bestehen doch von außen bis innen aus Egoismus. Sie gelten als hervorragende Strategen und gewiefte Taktiker und sind doch nichts anderes als Dummköpfe, Parvenus ohne den geringsten geistigen Zuschliff. Das ist der Ludendorff-Typus. Dieser Typus war nun an der Macht. Man hat den Nihilisten zum
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