Abendland
Heroen erhoben. Das ist wohl einmalig in der Weltgeschichte! Aber durchaus logisch! Wenn ausschließlich der Krieg dem Tod einen Sinn zu geben vermag, so ist der Gipfelpunkt des Nihilismus erreicht. Nur: Nach drei Jahren hingebungsvollem Schlachten hat sich herausgestellt, daß dem Tod im Krieg kein Sinn gegeben werden kann, weil sich nämlich der Sinn auf alle gleich verteilt und sich der großen Masse wegen gegen null verdünnt. Und wenn alles vorbei ist, nach dem Ende, sollen wir einsehen, daß wir glücklich nur sein können, wenn wir mit der Welt nüchtern und vernünftig umgehen, und gar nicht, indem wir ihr einen Sinn geben? Kein Sinn also? In so einer Welt wolle sie nicht leben. Mir, dem Elfjährigen, vertraute Edith Stein ihren Schmerz an. Daß sie sich von dieser Welt abwenden wolle, daß sie in Kontemplation leben wolle. Wenn die Welt keinen Sinn brauche, brauche der Sinn keine Welt. – ›Ich kenne sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.‹ – Ich habe den Brief verloren. Was ich sehr bedaure.«
Im Schreibtisch drüben, sagte er, in der obersten Schublade rechts, verwahre Frau Mungenast die Zigaretten auf. Ob ich so gut sei, ihm noch eine zu bringen, er wolle sie nicht rauchen, nur in den Aschenbecher legen, damit sie ihren Duft verströme. Erst habe Frau Mungenast die Zigaretten im Küchenkasten deponiert, aber dort hätten sie die Frau aus dem Dorf und ihre heimtückische Tochter immer geklaut.
»Setz dich so, daß ich dich ansehen kann«, sagte er, ehe er in seiner Erzählung fortfuhr. »Hast du Schmerzen?«
»Solange ich liege, nicht«, sagte ich.
»Schieb’ den Rollstuhl etwas näher heran.« Er legte seine Hand auf meinen Fuß. »Die meisten Geschichten entpuppen sich bei näherem Hinhören als Familiengeschichten. Und meine Familie, das seid ihr gewesen. Also hör zu!
Siebenundsechzig Jahre, nachdem ich diesen Brief bekommen hatte, bald nach Margaridas Tod, klingelte es an meiner Tür, und deine Mutter stand draußen. Und sie sagte: ›Es gibt sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.‹ Genau so. Der Schmerz über den Tod deines Vaters war immer noch in ihr wach. Und sie glaubte, ich, der ich einen ähnlichen Schmerz in mir hatte, könne ihren Schmerz verstehen. Weil sie ihn selber nicht verstand. Aber ich verstand ja den meinen auch nicht. So haben wir uns zusammengetan. Um uns gegenseitig zu helfen. Sie wollte nicht reden. Also habe ich geredet. Ich habe ihr alles mögliche erzählt, quer durch mein Leben, und ich habe ihr auch von Edith Stein erzählt. Habe ihr ausführlich jene Nacht geschildert, in der sich meine Tanten die Pulsadern aufgeschnitten und sich ins warme Bad gesetzt hatten. Auch von dem Brief, den mir Edith Stein geschrieben hat, habe ich ihr erzählt. Und daß ich damals dachte, sie schreibt mir, weil sie nicht mehr leben will. Daß es also ein Abschiedsbrief war. Daß auch sie sich die Pulsadern aufschneiden und sich ins warme Wasser setzen wollte. Weswegen ich mich nicht getraut hatte, ihr zu antworten. Ich erzählte auch, daß ich Edith Stein Jahre später bei einem ihrer Vorträge noch einmal getroffen und daß sie damals bereits das Ordenskleid getragen habe. Deine Mutter saß, wo du jetzt sitzt, und ich habe ihr aus der Lebensgeschichte von Edith Stein vorgelesen. Und habe ihr auch von ihrem traurigen Ende erzählt. Und daß ich in Nürnberg ihrem Mörder begegnet bin. Und sie hat zugehört. Sie hat in demselben Zimmer geschlafen, in dem du schläfst. Wir sind am Morgen gemeinsam ins Dorf spaziert und haben Semmeln fürs Frühstück gekauft und Milch, weil sie so gern Kakao getrunken hat. Wir setzten uns draußen vor die Hauswand in die Sonne, auch zum See hinunter sind wir spaziert, und am Abend habe ich weitergelesen, und sie hat zugehört und hat mich gefragt, ob es mir recht sei, wenn sie einfach gar nichts sage, und das war mir recht. So haben wir uns gegenseitig getröstet. Kannst du das verstehen?»
Ich gab ihm keine Antwort, und er fragte noch einmal: »Kannst du das verstehen, Sebastian?«
Ich antwortete wieder nicht.
»Hast du überhaupt eine Vorstellung, was Trost sein kann? Hast du je Trost nötig gehabt?«
Margarida starb sechs Jahre nach meinem Vater. Sie war zum Postkasten gegangen, es war im Jänner gewesen, Schnee lag, sie rutschte aus, kam nicht mehr hoch und erlitt einen Herzinfarkt. Carl teilte es mir am Telefon mit, und ich fuhr mit dem nächsten Zug von Frankfurt nach Innsbruck, und nach Margaridas Beerdigung kehrte ich
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