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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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als Kind, und sie fühlte, daß ich keines mehr war.
    Diese bewußtlose, gleichsam biologische Einheit zwischen meiner Mutter und mir zerfiel, als mein Vater zurückkehrte. Er war immer noch trocken, aber er züchtete verrückte Ambitionen hinter seiner Stirn, die schließlich dazu führten, daß wir Wien verließen und nach Vorarlberg in ein winziges Dorf zogen. Meine Mutter und ich fanden nicht wieder in unser Paradies zurück. (Unser Paradies – so will ich es definieren – war der Ort, an dem wir nicht permanent von falschen Erwartungen bedroht waren.) An ein einziges wirkliches Gespräch mit ihr erinnere ich mich – ich meine damit ein Gespräch, bei dem ich den Eindruck hatte, ich unterhalte mich mit meiner Mutter und nicht mit einer Leihgabe an unsere Familie: Das war wenige Tage nach der Beerdigung meines Vaters. Wir unternahmen einen weiten Spaziergang; wir waren euphorisch – Folge meines Entsetzens und ihrer Zermürbtheit –, und auf einmal war eine wonnige, von aller Dumpfheit befreite, glücklich aus dem Tunnel entlassene, vernünftig heitere Innigkeit zwischen uns. Ich wünschte, wir hätten sie nicht wieder verloren …
6
    Über meine Mutter zu schreiben fällt mir sehr schwer und erscheint mir als eine zusätzliche Vermehrung meiner Schuld. Wenn ich von meinem Vater erzähle oder von Carl oder von Margarida (über deren Kindheit und Jugend ich viel besser Bescheid weiß als über Kindheit und Jugend meiner Mutter, die mir fremd erscheinen wie die Erinnerungen eines x-beliebigen, fremd und abstoßend, wahrscheinlich deshalb, weil meine Mutter ihre Herkunft selbst so sah und deshalb nie darüber sprechen wollte und sowohl meinen Vater als auch mich sorgfältig von ihrer Verwandtschaft fernhielt); oder wenn ich von Maybelle Houston erzähle – wie ich es im dritten Teil ausführlich tun werde –, darf ich auf die lindernde Distanz des Präteritums vertrauen. Meine Mutter lebt noch. Was auch immer ich über sie schreibe, es wird ungerecht, unfair, arrogant, mäklerisch, herablassend, zynisch oder grausam und kalt geraten – wie der vorangegangene Satz: Als ob ich ihr vorwerfe, daß sie lebt, weil dies für die Arbeit an meinem Buch hinderlich sein könnte! Was auch immer ich über sie schreibe, es wird sie kränken, wenn sie es liest. Aber egal, wie tief die Kränkung sein wird, sie wird mir verzeihen. Im übrigen glaube ich nicht, daß sie mein Buch lesen wird. Sie hat nie gelesen in ihrem Leben, auch meine Sachen nur, wenn ich sie dringend darum gebeten habe (wie im Fall der eingangs erwähnten Novelle, in der ich mir Carls Charakter ausgeborgt habe). Das macht es für mich allerdings noch schwerer, von ihr zu erzählen. Es ist, als ob ich hinter ihrem Rücken über sie redete – und das zu jemandem, den ich nicht einmal kenne. Ich kann mir vorstellen, was sie zu alldem sagen würde: Auch David, dein Sohn, lebt noch , hält sie mir in meiner Phantasie entgegen. Über ihn schreibst du ja auch. Hast du ihn gefragt, ob er das will? Du hättest ihm gegenüber weiß Gott mehr Grund zu einem schlechten Gewissen als mir gegenüber. Du wirfst dir selbst vor, daß du mich nach dem Tod deines Vaters allein gelassen hast. Aber das ist Unsinn. Ich konnte immer gut mit mir allein sein. Ich erwarte nichts anderes von meinem Tag, als daß er vergeht und gleich ist wie der vorangegangene. David hast du verlassen. Er ist erschrocken, als du mich ihm vorgestellt hast. Und was denkst du, warum er erschrocken ist? Wegen meines Ordenskleides? Das glaube ich nicht. Darüber wird er sich höchstens gewundert haben, oder er wird sich amüsiert haben, oder er wird gar nicht gewußt haben, was es ist. Er ist erschrocken, weil er von meiner Existenz nichts wußte. Er wußte nicht, daß seine Großmutter überhaupt existiert … – Ich hatte alles verabsäumt, was ein Sohn nur verabsäumen kann; oder wie sie es zusammenfaßte, als wir, David und Dagmar zwanzig Schritte vor uns, durch Lans und weiter über das Maisfeld zur Haltestelle gingen: »Du hast mich nie geliebt.« Wofür sie sich natürlich die Schuld gab. Ich sagte: »Das stimmt ja nicht, Mama.« Als hätte sie bei einer Rechenaufgabe bloß falsch zusammengezählt. Ich fürchtete nämlich, wenn ich jetzt das einfache Ich-liebe-dich sage, könnte es für sie wieder nur zynisch klingen.
    »Weißt du noch«, sagte ich, »als Papa in Amerika war, sind wir einmal miteinander ins Kunsthistorische Museum gegangen, wir beide, weißt du das noch?«
    »Das weiß ich

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