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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hatte er noch die Augen offen, als ob er lebendig wäre –, schließlich sah ich sie. Sie standen in einem der kleineren Räume neben einem Bild, das einen Maler von hinten zeigte, der eine Frau in blauem, etwas steifem Gewand porträtierte – Die Malkunst von Vermeer, wie ich viel später dazulernte. Tatsächlich schweifte mein erster Blick von den beiden ab zu dem Bild. Als ob es Macht besäße, die beiden auszulöschen. Meine Mutter drehte mir den Rücken zu, ihn sah ich im Profil. Ein hochgewachsener Dunkelhaariger mit einem ausrasierten Bart, der wie ein dunkles Körbchen an seinen Ohren hing. Ich nahm mir vor, die Sporthefte unverzüglich zu vernichten, im Ausguß der Waschküche zu verbrennen und die Asche in die Kanalisation zu spülen (was ich freilich nicht getan habe). Der kann meinem Vater nichts anhaben, dachte ich. Und Carl würde ihn niemals anerkennen. Ich kehrte um und spazierte, befriedigt, als hätte ich die Bestätigung erhalten, daß mein Fluchen Wirkung getan habe, an den Gemälden vorbei und hinaus aus diesem unerklärlichen Palast.
    Bald nach mir kam meine Mutter nach Hause. »Es hat sich erledigt«, sagte sie.
    »Bist du mir böse?« fragte ich.
    »Ein paar Tage lang, ja«, sagte sie.
    »Und nach den paar Tagen?«
    »Nicht mehr.«
    »Hast du mich lieb?« fragte ich.
    »Natürlich habe ich dich lieb.«
    Aber sie fragte mich nicht zurück, ob ich sie auch lieb habe. So weit ging es doch wieder nicht.
    Im Herbst 1985 – ich lebte in Amerika, in North Dakota, in der Nähe der Stadt Dickinson – erhielt ich einen Brief von Carl, in dem er mich dringend bat, nach Österreich zu kommen – »Unter allen Umständen!« –, es gehe um das Leben meiner Mutter. Ich rief ihn sofort an. Es war unser erstes Telefonat nach langer Zeit.
    Er freute sich überschwenglich, soweit man das bei seiner Art sagen kann; kein Vorwurf klang in seiner Stimme nach, keine Spur von Distanziertheit bemerkte ich; womit ich nämlich gerechnet hatte, ich hatte den Kontakt ja ziemlich brüsk abgebrochen nach dem Gespräch aus der Telefonzelle in Brooklyn. Nein, sagte er, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, meiner Mutter gehe es gut, vielleicht sogar besser als je zuvor, sie sei gesund, wie ein Mensch nur gesund sein könne, und sie sei glücklich. Sie habe einen Lebensentschluß gefaßt, und sie brauche mich, damit sie ihn ausführen könne. Näheres wolle er aus Respekt vor ihr am Telefon nicht sagen. Er ließ mir keine Gelegenheit für Wenn und Aber, redete über die paar Worte, die ich einwarf, hinweg: er habe beim Reisebüro einen Flug reservieren lassen und gehe davon aus, daß ich einverstanden sei, er werde noch heute buchen.
    Was dachte ich? Daß meine Mutter wieder heiraten will, dachte ich. Seit ich in Amerika war, hatte ich ihr fünf Ansichtskarten geschrieben, zwei aus New York, eine aus Washington, D.C., eine aus Oxford, Ohio (wo ich an der Miami University einige Vorträge über deutsche Literatur, speziell über Brecht, Brentano, Heine und Wedekind, also Lyrik, die sich singen läßt, gehalten hatte), und ein Ansichtskartenleporello mit Bildern vom Theodore Roosevelt Nationalpark, der, wie ich schrieb, »meine neue Heimat« geworden sei. Sie hatte mir mit ebenso vielen Briefen geantwortet, keiner länger als zehn Zeilen. Ich dachte, das ist eine wirklich gute Idee, daß sie heiraten will. Ich stellte mir vor, was für ein Mann es sei, und er war mir in meiner Phantasie sympathisch. Weiter dachte ich, es muß einen Grund geben, warum meine Mutter Carl vorschickt und mir nicht selbst geschrieben hat; und ich dachte, sie schämt sich vor mir und fürchtet, ich könnte ihr ihre neue Liebe übelnehmen; und ich dachte, ja, nun kann wirklich alles gut werden zwischen uns, und ich wollte auch alles dafür tun und gleich damit anfangen, indem ich akzeptierte, daß sie mir ihren Entschluß indirekt über Carl mitteilte. Ich sagte zu. Rief nicht bei ihr an. Stieg in meinen Jeep, ratterte durch die Prärie nach Bismarck, hüpfte über Minneapolis und Amsterdam nach Zürich, fuhr mit dem Zug nach Feldkirch in Vorarlberg und von dort mit dem Bus in das kleine Dorf Nofels und ging zu Fuß die zwei Kilometer von der Haltestelle zu dem wettergrau geschindelten Bauernhaus, in dem meine Mutter nun allein wohnte. Sie empfing mich mit einem kräftigen Händedruck. Sie hatte die Haare zu einer kurzen Männerfrisur geschnitten, trug selbst im Haus einen dünnen Staubmantel und war geistesabwesend wie immer. Ich konnte an ihr

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