Jane Christo - Blanche - 01
Prolog
W
as zum Teufel hatte sie hier verloren? Blanche schluckte einmal, zweimal. Atmete tief durch. Während ihr Blick über das aufgeworfene Erdreich zu ihren Füßen wanderte, suchte sie vorsichtig nach einer Gefühlsregung. Doch außer der Kälte, die nichts mit dem klammen Novembertag zu tun hatte, spürte sie nicht das Geringste. Wie es aussah, war der kümmerliche Rest ihres Emotionsvorrats aufgebraucht. Gut. Sie schloss die Augen und stieß den angehaltenen Atem aus.
Als sich ihre Lider wieder hoben, blieb ihr Blick einmal mehr an der nackten Erde hängen. Kein Kranz, keine Blumen, kein Kreuz. Nicht einmal ein Name. Und auch kein Körper, denn das Grab war leer, so verlassen wie sie an diesem trostlosen Nachmittag. Schmerz flammte auf, doch sie drückte ihn mit gewohnter Routine zurück und klammerte sich an die betäubende Kälte, die sie in diesem Augenblick zusammenhielt.
Nicht fühlen, mahnte sie sich. Er ist tot. Das hier ist sein Grab, konzentrier dich auf die nächsten Schritte.
Von wegen! Wayne konnte nicht sterben, er war ihre Familie, ihre ganze Welt. Ihr Alles.
Es war nicht möglich, dass jemand wie er starb. Er war stark, klug und sehr, sehr vorsichtig gewesen – der verflucht beste Profikiller dieser Stadt. Wer zum Teufel hatte ihn zur Strecke bringen können?
Eine kühle Brise spielte mit einer Haarlocke, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Blanche strich sie zurück.
Genau das würde sie herausfinden. Wer waren diese Dreckschweine, die einen halben Häuserblock in die Luft jagten, um einen einzigen Mann zu erledigen? Nur um Wayne auszuschalten, ihren Mentor, der wie ein Vater für sie gewesen war. Die aufkeimenden Gefühle fraßen sich wie Säure durch ihre Eingeweide. Blanches Fingernägel bohrten sich in die Handballen, doch es war zu spät. Ihre Augen brannten und ihr Hals fühlte sich so rau an, dass man ein Streichholz daran entzünden konnte. Sie wankte, als der zurückgehaltene Schmerz sich aufbäumte und ihr mit Anlauf in die Magengrube trat. Wut, Angst und Verzweiflung rangen miteinander, doch am Ende siegte ihr Drang nach Vergeltung. Die Vorstellung, sich an Waynes Feinden zu rächen, hatte etwas Befreiendes, geradezu Erlösendes.
Als der Wind eine weitere Strähne aus ihrem Haarband löste, die ihr sanft über die Wange strich, klemmte sie sie brüsk hinter ihr Ohr und nahm einen zittrigen Atemzug.
Wayne.
Verbissen suchte sie nach der vertrauten Kälte. Wenn sie diesen Job erledigen wollte, durfte sie sich keine Gefühle erlauben.
Fokussieren!
Die Erinnerung an Waynes mahnende Worte gab ihr Halt. Beinah glaubte sie, er würde neben ihr stehen. Wie oft hatte er sie während des Trainings aufgefordert, sich zu konzentrieren? Der Gedanke an seinen Unterricht tat weh, doch er war auch tröstlich. Waynes ruhige Ausstrahlung hatte sie stets gestärkt und ihr das Gefühl von Geborgenheit gegeben. Er war der Anker in ihrem Leben gewesen, ihr Zuhause – bis zu dem Tag, als er sie fortgeschickt hatte. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.
Einatmen. Ausatmen. Ein Kinderspiel. Allmählich lockerte sich der Knoten in ihrem Hals und sie entspannte sich ein wenig.
Also schön. Wayne war seit drei Tagen tot, die Spur seiner Mörder noch warm. Diese Aufgabe würde ihr einiges abverlangen, denn Waynes Gegner könnten den Arc de Triomphe füllen. Aber es war ja nicht so, als hätte sie in ihrem Leben unter einem Mangel an Herausforderungen gelitten.
Sie sank vor dem Grab auf ein Knie und vergrub die Finger in dem lehmigen Boden.
„Ich werde deine Mörder finden, Wayne, und bei Gott: Hierfür werden sie bezahlen!“
1
W
aynes Quartier war a zusammen mit ihm und all seinen Sachen in die Luft geflogen und in dem anschließenden Inferno zu Holzkohle verbrannt.
Zumindest war das ihre Vorstellung der Ereignisse, schließlich gab es nichts, aber auch gar nichts, dasman hätte identifizieren können. Keine Spuren, keine Überreste, keine Leiche. Blanche hatte es nicht über sich gebracht, den Tatort aufzusuchen. Noch nicht. Sie war gerade erst in Paris eingetroffen. Zuerst würde sie Waynes Versteck einen Besuch abstatten, ein Schließfach im Gare du Nord, dem Hauptbahnhof von Paris. Davor musste sie mit Leo reden. Er besaß eine Pfandleihe im siebzehnten Arrondissement in der Nähe des Montmartre und hatte Wayne nebenbei Aufträge verschafft.
Normalerweise lief es so ab, dass man mit Leo einen Termin vereinbarte. Einerseits, um sich in der Stadt anzumelden, andererseits, um die
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