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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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wiedersehen?«
    »Ich brauche noch zwei Wochen.«
    »Wozu brauchst du noch zwei Wochen?«
    Sie antwortete nicht.
    Einmal schlich er sich in der Nacht in den Strohkoffer, blieb aber hinten an der Tür stehen. Durch die Rauchschwaden konnte er Agnes sehen, die vor dem Podest an einem Tischchen saß, zusammen mit einigen jungen Männern. Georg, vor dem Hintergrund seiner Combo, spielte und sang ins Mikrophon und rauchte dabei und wirkte gleichgültig und geistesabwesend – wie immer, wenn er auf einer Bühne war. Agnes bewegte sich ausgelassen zum Rhythmus, die Arme erhoben, ein wenig hysterisch. Waren die jungen Männer ihre Freunde? Offenkundig interessierte sie sich mehr für diese Imitate amerikanischer Soldaten in Zivil als für Georg und dessen Musik. Sie hatte sich geschminkt, die Lippen grell und steil, ihr Kleid hatte einen tiefen Ausschnitt, den Busen drückte ein spitzer Büstenhalter nach oben. Die Männer versuchten, sie an den Händen zu erwischen. Wenn es einem gelang, hielt er sie fest, leckte sich die Finger seiner anderen Hand ab und berührte damit ihre Fingerkuppen. Wie konnte sich jemand so ein lächerliches Spiel ausdenken! Oder hatte es etwas zu bedeuten? Drei Männer, eine Frau. War einer unter ihnen, den sie bevorzugte? Es war nicht festzustellen. Keiner von ihnen blickte zur Bühne. Warum waren sie überhaupt hierhergekommen? Nur wegen Agnes? Hatte sie diese Idioten mitgebracht? Fern von all dem spielte der Gitarrist, und Carl meinte, nie zuvor habe er besser gespielt. Keiner hier weiß, was dort vorne auf der Bühne eigentlich geschieht, dachte er, und er dachte es mit gallebitterem Stolz. Dennoch hielt sein Blick nicht bei Georg aus.
    Die folgende Geschichte – eigentlich das Ende der vorangegangenen – hatte mir Margarida erzählt; dieser Teil gehörte nicht zum familiären Sagenschatz. Margarida war damals noch nicht in Wien gewesen, sie kannte die Geschichte also selbst nur aus den Erzählungen ihres Mannes.
    Eines Abends sei Agnes nicht ins Café Museum gekommen. Die Spaziergänge mit ihm waren ihr vielleicht endlich doch zu langweilig geworden – befürchtete Carl. Vielleicht war er ja inzwischen als Ganzes zu einem langweiligen Menschen geworden. Die Kollegen an der Universität, die ihm, dem »Amerikaner«, anfänglich mit Mißtrauen begegnet waren, schienen ihn auf dem »amerikanischen Weg des Lebens« längst überholt zu haben; wenn er zu den Konferenzen kam, war ihm, obwohl er einer der Jüngsten in der Runde war, zumute, als stünde er kurz vor seiner Emeritierung. Die wortkargen Spaziergänge mit Agnes empfand er als eine Befreiung aus den Mißstimmungen und dem richtungslosen Leerlauf seiner Tage. Sie sah nicht besonders gut aus, sie hatte kein Geld und keine Ideen. Ein von der Realität ungedecktes und darum so herausfordernd wirkendes Selbstbewußtsein – das bewunderte er an ihr. – Er wartete eine Stunde, blätterte in den Zeitungen und bestellte sich ein Seidel Bier und ein Paar Sacherwürsteln mit Kren und Senf. Schon eine Minute nach sechs hatte er gewußt, daß sie nicht kommen würde.
    Als er am Rudolfsplatz die Tür aufsperrte, legte sie die Hand auf seine Schulter. Sie hatte im Torschatten auf ihn gewartet. Es sei etwas geschehen, sagte sie und schlüpfte vor ihm ins Haus. Er bereitete Tee zu, und sie setzten sich in sein Arbeitszimmer. Sie blickte sich nicht um, fragte nicht.
    »Ich habe mich geirrt«, sagte sie.
    Ich fragte Margarida, was meine Mutter damit gemeint habe.
    »Auch sie war drauf und dran, einen großen falschen Schritt zu tun«, antwortete Margarida.
    Dieses Gespräch zwischen Margarida und mir fand irgendwann Mitte der siebziger Jahre statt, und das Thema waren die großen falschen Schritte gewesen. Ich war nach einem furchtbaren Streit mit Dagmar in der Nacht von Frankfurt nach Innsbruck geflohen, um bei Margarida und Carl Trost, Linderung und Rat zu holen.
    »Agnes hatte sich eingebildet, sie habe sich in Carl verliebt«, sagte Margarida. »Das war alles.«
    »Und Carl?«
    Carl hatte sie unterbrochen, ehe sie weitersprechen konnte. Er wolle nichts davon hören, hatte er gesagt; er wünsche, daß sie ihren Tee trinke und unverzüglich gehe und daß sie kein Wort weiter von dieser Sache spreche; und er verbiete ihr, Georg davon auch nur ein Wort zu sagen.
    Als sie gegangen war, habe er sich an den Schreibtisch gesetzt und an Margarida einen Brief geschrieben:
    Margarida! Was ist mit uns? Was ist mit uns! Ich lebe in einem leeren Haus. Komm zu

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