Abendland
außerordentliche Professorin« war, wurde die neue Beamtenverordnung, die nur Arier als Beamte zuließ, auf sie angewandt. Sie wies die Behörde auf den Widerspruch hin. Die Behörde antwortete, sie sehe keinen Widerspruch. Frau Professor Noether bekam keine Abfindung und keine Pension. Und sie durfte die Universität nicht mehr betreten. Ihr russischer Kollege Pavel Aleksandrov bemühte sich um einen Lehrstuhl in Moskau für sie – vergeblich. Sie erhielt ein Angebot für eine Gastprofessur an das Frauen-College Bryn Mawr in Pennsylvania, USA. Sie nahm an. Neben ihren Lehrveranstaltungen am College hielt sie wöchentliche Vorlesungen am Institute for Advanced Study in Princeton, an dem bereits Albert Einstein und Hermann Weyl arbeiteten (diese neuartige, damals weltweit gewiß unvergleichbare Akademie – dem, wie Einstein es ausdrückte, »Elfenbeinturm aus roten Backsteinen«, wo, wie Kurt Gödel dazu spöttisch bemerkte, die »Fürsten der Reinen Vernunft« residierten – widmete sich der »Nutzanwendung unnützer Erkenntnisse«, was Emmy Noethers Auffassung von ihrem Fach sehr entgegenkam). Beide hatten sich für sie eingesetzt. Noch einmal fuhr sie nach Deutschland, nämlich um ihren Haushalt aufzulösen. Sie verabschiedete sich von der Göttinger Luft und von Göttingens schiefen Häusern, die aussahen, als wären sie den biederen Kindergeschichten entstiegen, die man sich vielleicht in ihrem Inneren erzählte, Geschichten von apfelbackigen Mädchen und kurzbehosten Buben, die in zarten Grundfarben gekleidet, mit Netzen in den Fäustchen über satte Wiesen hinter Schmetterlingen herliefen …
Anfang April 1935 fand jenes Zusammentreffen in der kleinen Stadt Kinnelon in New Jersey statt, zu dem auch Carl eingeladen war. Die Gastgeber, die die Party veranstalteten, waren ein jüdisches Emigrantenehepaar aus Berlin, erst vor kurzem waren die beiden aus New York ins Landesinnere von New Jersey gezogen; er arbeitete bei der Regierung – oder für die Regierung –, sei persönlich mit Roosevelt bekannt; die Frau – groß, schlank, elegant, in hellem Grau, aschblonde Haare, wie eine Schauspielerin sah sie aus, ihre Stimme war leise und ein wenig sandig – arbeite angeblich ebenfalls für die Regierung. Carl hatte von Anfang an den Eindruck, es gehe hier um mehr als nur darum, eine Party zu Ehren einer deutschen Professorin zu feiern.
Carl war tatsächlich im Eiltempo durch seine Dissertation geritten. Emmy Noether hatte ihm die beste Note dafür gegeben, war aber doch enttäuscht gewesen und hatte damit auch nicht hinter dem Berg gehalten. Seine Arbeit (»Über die Darstellung natürlicher Zahlen durch definite und indefinite quadratische Formen von 2r Variablen«) war ihr zu konventionell, zu wenig ambitioniert, insgesamt zu brav ausgefallen. Sie hatte sich von ihm etwas anderes erwartet. Lieber wären ihr, wie sie sagte, eine ausgestreute Handvoll verstiegener Vermutungen gewesen, für die es zwar nicht so gute Noten gegeben, die aber zu weiteren Spekulationen gereizt hätten, als diese zweifellos kluge, aber letztlich auch feige Sicherstellung von Bröseln. Auch Carl war nicht begeistert von seiner Arbeit, ein »Formelgestrüpp« nannte er sie. Der Kontakt zu Emmy Noether lockerte sich, ihre Beziehung kühlte deutlich ab, gemeinsame Spaziergänge in die Umgebung der Stadt fanden nicht mehr statt. Was doch zu erwarten gewesen wäre, nämlich daß Doktorvaterin und Doktorand wenigstens einmal über ihre gemeinsame Zeit in Moskau gesprochen hätten – nicht ein einziges Mal. Sie waren einander aus dem Weg gegangen während der letzten Wochen in Moskau, und sie gingen einander aus dem Weg in Göttingen. »Allerdings«, so schränkte Carl mir gegenüber ein, »glaube ich heute, es lag ausschließlich an mir. Im Gegenteil will es mir manchmal scheinen, daß sie meine Nähe sogar suchte. Ich sah sie durch die Jüdenstraße gehen, an dem Haus vorbei, in dem ich wohnte, und ich sah sie unter dem Portal der Jacobi-Kirche sitzen und den Spatzen zuhören, die große Freundin der Naturtöne, viel schöner als der heilige Franziskus, nur weil sie hoffte, sie werde mich dort treffen. Es fällt mir bei Gott nicht schwer, mir auszudenken, was in ihr vorging: Sie wollte sich nicht aufdrängen. Er hat in Moskau eine doppelte Portion Noether abgekriegt, und nun will er sich entwöhnen. Das wird sie sich gedacht haben. Daß ich eben doch so ein falscher Fünfziger sei, der beleidigt ist, wenn man ihm nicht schmeichelt.
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