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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Hätte ich ihr sagen sollen, daß mich die Mathematik nur noch wenig interessierte? Ich dachte, das würde sie mehr treffen als jede persönliche Animosität. Was für ein engherziger Unsinn! Wenn es wahr ist, daß ich mich leichtfertig aus ihrem Herzen katapultiert habe, so tut es mir sehr leid, so tut es mir auch nach siebzig Jahren noch sehr, sehr leid.« Er habe »Hirnschwerstarbeit« leisten müssen, um nicht dauernd an »den Moskauer Kasus« zu denken, und jedesmal, wenn er sie gesehen oder schon wenn er nur ihr Lachen durch das Auditoriengebäude habe schallen hören, sei er in dieser Arbeit, die seine wahre Doktorarbeit gewesen sei, zurückgeworfen worden auf das Vorsortieren der Prämissen. Er blieb nicht einen Tag länger als nötig in Göttingen, packte seine Sachen, sobald ihm seine Papiere ausgehändigt worden waren, und kehrte nach Wien zurück – übrigens, was er sich ebenfalls noch heute vorwerfe, ohne sich von »einem gewissen Mädchen« zu verabschieden, dessen Name er, was er sich doppelt vorwerfe, vergessen habe.
    »Verabschiedet habe ich mich von meinem Freund Eberhard Hametner. Ich war in Versuchung gewesen, ihm alles zu erzählen. Und daß ich meine Höllenfahrt in gewisser Weise ihm zu verdanken hatte. Ich habe es nicht getan. Ich habe ihm nicht einmal meine Eindrücke von der Realität des Kommunismus geschildert. Das war sicher ein Fehler. Vielleicht hätte das ja bewirkt, daß er nach Hitlers Machtergreifung nicht ausgerechnet nach Charkow emigriert wäre. Er hat es überlebt. Gut bekommen ist es ihm nicht. Eine Zeitlang ist er drüben gehätschelt worden, war sogar Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift in deutscher Sprache, die großzügig mit Mitteln ausgestattet war. Im Zuge des immer paranoider werdenden Sowjet-Patriotismus wurde er der Vergehen der Sabotage und Spionage angeklagt, wurde gefoltert und eingesperrt und schließlich in ein sibirisches Lager verschleppt. Aber, wie gesagt, er hat es überlebt. Und ich bin ihm wieder begegnet. Helen übrigens auch. Sie hieß nicht mehr Abelson, sie war inzwischen Eberhards Frau. Eine gute Frau, wie ich wider Willen zugeben mußte.«
    Eine Zeitlang half Carl in Wien als Assistent am Physikalischen Institut mit, Vorlesungspläne zu entwerfen, eine Ordnung für die Institutsbibliothek zu entwerfen, Seminararbeiten zu entwerfen und Seminararbeiten zu korrigieren. Er begann auch, an seiner Habilitation zu werkeln, ohne Freude allerdings und ohne an das Ziel zu glauben. Sein wissenschaftlicher Mentor war der Zahlentheoretiker Philipp Furtwängler, der von Carls Arbeit sicher mehr verstand als Emmy Noether, die ja Algebraikerin war, der ihm aber zu wenig Ernst entgegenbrachte. Überhaupt habe er, erzählte Carl, hier in Wien niemanden gefunden, der – wie seine Göttinger Professorin – felsenfest an die objektive, vom menschlichen Denken und seinen Moden unabhängige Existenz der mathematischen Wirklichkeit glaubte; tatsächlich habe er den Eindruck gehabt, hier fallen Schein und Sein auch in der Mathematik auseinander (was merkwürdig ist, denn zu ebendieser Zeit beherrschte der »Wiener Kreis« mit seinem logischen Positivismus den wissenschaftlichen Diskurs. In anderem Zusammenhang hat mir Carl einmal erzählt, daß er des öfteren zu den berühmten Donnerstagabenden des Zirkels um Moritz Schlick in die Boltzmanngasse eingeladen worden sei, daß er die Diskussionen aber jedesmal als unangenehm und verlogen empfunden habe, weil auf der einen Seite, wenn einer ein Wort mit »Meta…« begonnen habe, den Herren Schlick, Neurath und Waismann die Krallen aus den Augen gesprungen seien in der Erwartung, es gehe mit »…physik« weiter, andererseits weil allein bei der Erwähnung des Namens Wittgenstein dieselben Augen sich in religiöser Verzückung nach oben verdreht hätten. Carl: »Mit einem einzigen Menschen aus diesem Kreis habe ich ein vernünftiges Gespräch geführt, nämlich mit Kurt Gödel, und der war am Ende seines Lebens in Princeton verrückt genug, einen mathematischen Beweis für die Existenz Gottes führen zu wollen.«).
    Der Großvater schlug vor, Carl solle in der Firma als Kompagnon mitarbeiten; er solle seine Intelligenz sozusagen als Kapitaleinlage zur Verfügung stellen. Der alte Mann hatte in der Wirtschaftskrise fast alles verloren – »Ich bin zur Bank«, so stellte er Carl seine finanzielle Situation von 1923 dar, »habe mein gesamtes bares Vermögen abgehoben, bin ins Landtmann gegangen und habe es

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