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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hingefahren, oder war er eingeladen worden? Wenn eingeladen, von wem eingeladen? Immerhin hatte er die Rede des Volksbildungskommissars hören können, also darf er zum engeren Kreis der Geladenen gezählt werden. Ein kleiner Dozent, der manchmal den Dolmetscher spielte? War das wahrscheinlich? Also bitte! Und daß er mich einlud, mit ihm nach Jasnaja Poljana zu fahren – was hatte das zu bedeuten? – Und so reimte ich mir die Sache zusammen: Nein, nicht einen deutschen Spion vermuteten sie in mir – sie hielten zwar die meisten Ausländer für Spione, Spione vor allem im Auftrag der Engländer oder Spione der Komintern, die ihrer Meinung nach mit Trotzkij unter einer Decke steckte –, mich hielten sie nicht für einen. Einen Geschäftsmann hatte mich Pontrjagin genannt. Einen Händler. Einen, der vielleicht mit Nachrichten handeln könnte? Daß sie also einen Spion aus mir machen wollten? Einen Spion gegen Deutschland? Und er, Pontrjagin, sollte mich rekrutieren. Sollte mich in seine Schuld stellen. Sollte etwas über mich herausfinden, damit man etwas gegen mich in der Hand hatte, um mich unter Druck setzen zu können. Diese Diskussion über die Dialektik der Schönheit, die ja gar keine Diskussion war, sondern ein Monolog, hatte er sie vom Zaun gebrochen mit dem alleinigen Zweck, mich zu provozieren? Und dann war ihm der armenische Riese Aszaturow mit einer gefährlichen Assoziation in die Quere gekommen. Der Name des großen Generalsekretärs hatte wie das Schwert des großen Alexander gewirkt. Pontrjagin hatte die Fassung verloren, die Provokation war nicht gelungen – im ersten Anlauf jedenfalls nicht. Also unternahm er einen zweiten Versuch und wartete im Hotel Leonjuk auf mich. Und im zweiten Versuch gelang ihm die Provokation. Blieb immer noch die Frage: Warum ausgerechnet ich? Andererseits: Warum nicht ausgerechnet ich! Zwei Faktoren hatten sich für jene Leute, die hier Regie führten, zu einer günstigen Situation verbunden. Erstens: Irgendein junger, einigermaßen intelligenter Mann wollte unbedingt zwei Semester in Moskau studieren. Der schien jedenfalls kein Feind zu sein. Vielleicht war er sogar ein Freund? Zweitens: Graf Brockdorff-Rantzau, dieser brillante Vermittler der beiden gegenüber der alliierten Welt isolierten Reiche Deutschland und Rußland, der von niemandem und nichts hinters Licht geführt werden konnte, war tot, und sein Nachfolger hatte erst seit wenigen Monaten das Amt inne, war unsicher, unerfahren, überfordert, fremd, wenig ambitioniert. Es war ein Kinderspiel, vor seinen Augen einen jungen Deutschen, auch wenn er ein Österreicher war, in einen sowjetischen Spion zu verwandeln. – Klingt das alles absurd? Natürlich klingt es absurd. Aber seit gut zehn Jahren erreichten uns im Westen Nachrichten aus Sowjetrußland, und viele schienen noch viel absurder und waren dennoch wahr. – Was siehst du so an mir vorbei, Sebastian? Weil ich mir nicht an die Brust schlage? Bedenke die Jahre, wie lange das alles her ist!«
    Carl hatte am Nachmittag Besuch gehabt. Eine Reporterin vom ORF Landesstudio Tirol hatte sich kurzfristig angemeldet. Sie kam zusammen mit zwei Kameramännern und einem Toningenieur, eine schmale Person mit blondgefärbten Haaren, Ende Zwanzig, schätzte ich, in der Hand ein Blatt Papier, auf dem sie sich ihre Fragen notiert hatte. Sie plane keine bestimmte Sendung, sie wolle nur ein wenig mit Professor Candoris plaudern, rechtfertigte sie sich – seltsamerweise vor mir. Über ihre wahren Motive bestand natürlich kein Zweifel: Man rechnete mit dem baldigen Ableben von Professor Candoris und wollte Material für einen Nachruf sammeln. Sie schoben Carl ins Arbeitszimmer, stellten den Rollstuhl neben den Schreibtisch, die Bücherwand bildete den tv-üblichen Hintergrund für Geistesgrößen, nicht anders sollte es sein. Ich hatte meinen Mantel übergezogen und mich draußen vor der Hauswand in die Sonne gesetzt, während drinnen die Scheinwerfer aufgebaut, Carl mit einem Mikrophon verkabelt und die Kameras positioniert wurden. Das Interview dauerte über zwei Stunden, anschließend lud Carl die vier noch zu Tee und einer Jause ein, auch Frau Mungenast setzte sich zu uns an den Tisch, bis sie sich bald darauf verabschiedete. – Der Nachmittag war vertan. Als Carl und ich wieder Zeit für Erzählen und Zuhören hatten, war es bereits Abend. Deshalb dauerte unsere Sitzung an diesem Tag bis weit in die Nacht hinein. Einmal noch wurden wir unterbrochen; gerade als Carl

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