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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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zur Verfügung. Wie war er zu diesem Privileg gekommen? Persönliche Quadratmeter waren ein großes Privileg, vielleicht das größte überhaupt in jener Zeit in Moskau. Der Institutsleiter, Professor Jegorow, dem er wenigstens formal untergeordnet und wissenschaftlich verantwortlich war, saß in einem engen, fensterlosen Verschlag, Büro konnte man das nicht nennen, sein Schreibtisch war in eine Nische neben dem großen Hörsaal geschoben und durch so etwas wie eine spanische Wand, die nicht einmal bis zur Decke reichte, von der Halle abgetrennt worden – ein verbitterter Mann. Außerdem schien Pontrjagin über reichlich Mittel zu verfügen, private Mittel. Die Tschekisten hatten ja noch Wert und Ehre auf Askese gelegt, die Leute von der GPU, davon durfte man ausgehen, waren von den Umständen belehrt worden, daß Macht mit Bevorzugung auf allen Gebieten durchaus einhergehen konnte. Aus Andeutungen von Studenten glaubte ich ableiten zu dürfen, daß Pontrjagin, bevor Emmy Noether und ich nach Moskau kamen, überhaupt nicht am Institut tätig gewesen war. War er oder war er nicht? Direkt gefragt, bekam man keine Antwort. Es konnte sein, oder es konnte ebensogut nicht sein. Angenommen, er war nur unseretwegen ans Institut gekommen, was sich durchaus als harmlos erklären ließ, er diente ja Frau Noether als Dolmetscher, um so unverständlicher war es aber, daß einem kleinen Dolmetscher so ein geräumiges Büro zugewiesen wurde. Wenn seine wahre Tätigkeit jedoch eine andere, nämlich eine geheime, eine verdeckte war, wäre sie nicht gerade durch dieses Privileg aufgeflogen? Ja, das könnte sein. Aber vielleicht war es gar nicht nötig, etwas zu verbergen. Vielleicht wußten ja alle, was hier gespielt wurde. Alle außer Frau Noether und ich. Wenn man sich in dieser Zeit auf etwas verlassen konnte, dann darauf, daß die Menschen ihren Mund hielten. War er also abgestellt worden, um uns zu bewachen? Um uns auszuforschen? Um uns zu bespitzeln? Eine waghalsige, auch etwas hybride Vermutung, zugegeben. Aber angenommen, es war so, was für einen Grund gäbe es, Frau Noether zu bespitzeln? Sie war schließlich eingeladen worden. Nicht sie hatte darum gebeten, in Moskau Vorlesungen über Algebra halten zu dürfen. Sie war gebeten worden, umworben worden, umschmeichelt worden sogar. Man lädt doch nicht jemanden ein und will, wenn er hier ist, herausfinden, warum er gekommen ist. Pontrjagin hatte recht: Frau Professor Noether war eine bemerkenswerte Wissenschaftlerin, aber ein komplizierter Mensch war sie nicht. Nur meinte er mit kompliziert wahrscheinlich etwas anderes, als man landläufig darunter versteht. Für die GPU wäre sie kein komplizierter Fall gewesen, gewiß nicht. Aber ich vielleicht. Ich war nicht eingeladen worden. Ich hatte darum gebeten, sie begleiten zu dürfen. Also fragte man sich: Was will der? Der will doch etwas. Aber wenn man ihn nicht hereinläßt, kann man nicht herausbekommen, was er will. Also läßt man ihn herein und wirft ihm dabei keine Prügel in den Weg. Daß man mich also für einen Spion hielt? Daß man es für möglich hielt, daß ich ein Spion sein könnte – so ist es besser ausgedrückt. Lächerlich! Ich war dreiundzwanzig, ein behüteter Bürgerbengel, der in seinem Leben noch nicht einmal angestreift war an der Politik. Warum aber war mein Ansuchen, Frau Professor Noether nach Moskau begleiten zu dürfen, so ohne weiteres, ohne die üblichen bürokratischen Schlangenlinien positiv beschieden worden? Alle hatten sich darüber gewundert, am meisten der Beamte in der russischen Botschaft in Berlin. Und der neue deutsche Botschafter in Moskau, der Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Graf Brockdorff-Rantzau, hat mich behandelt, als wäre ich mit einer geheimen, selbst vor ihm geheimgehaltenen Mission ausgestattet. Und niemandem war eingefallen, wenigstens die Stirn zu runzeln, als er meinen Paß ansah, wo doch stand, daß ich Österreicher war und nicht Deutscher. Keine Schwierigkeiten bei den Russen, keine Schwierigkeiten bei den Deutschen. Weil die Russen die Deutschen gebeten hatten, mir keine Schwierigkeiten zu machen? Daß in diesem, in meinem Fall die Russen und die Deutschen zusammenarbeiteten? Vermutungen. Jede für sich vielleicht schwach. Manche nicht mehr als eine Ahnung. Zusammen wiesen sie immerhin in eine Richtung. Und welche Rolle spielte dabei Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin? Er war also zu den Tolstoi-Feiern nach Jasnaja Poljana gefahren. War er von sich aus

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