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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verfrühstückt« – und beim Börsenkrach 1929 war ihm noch einmal ein großer Brocken abgebrochen. Daß sein Enkel die hohe Kunst des Rechnens auf eine Weise ausübte, die niemandem nützte, hatte er zwar stets respektiert, aber auch für eine nachgerade unverantwortlich snobistische Spielart von Egoismus gehalten. Ohne um Bedenkzeit zu bitten, nahm Carl das Angebot an. Wenigstens so zu tun, als wäre er ein Geschäftsmann, war ihm eine willkommene Abwechslung und Penizillin gegen seine Ziellosigkeit. Er hielt es immerhin für möglich, daß er eines Tages nicht mehr bloß so tun müßte. Das hysterische Europa, sagte er, habe angefangen, ihm gehörig auf die Nerven zu fallen. Er beendete seinen Kontrakt mit der Universität und begab sich auf Reisen, nach Lissabon, nach Kairo und so weiter, wie bereits erwähnt, und schließlich nach New York, wo er einen lukrativen Handel mit Bourbon aufzog, den Jazz kennenlernte und wo er, was nicht von Anfang an seine Absicht gewesen war, fast ein Jahr blieb. – Und wo eines Tages in der Oak Bar des Plaza Hotels ein Mann an seinen Frühstückstisch trat und ihn zu einer Party zu Ehren seiner ehemaligen Professorin einlud; woraufhin ihn am nächsten Tag eine junge Journalistin und ein junger Psychologe namens Abraham Fields in einem melangebraunen Packard abholten und mit ihm gemeinsam hinüber nach Hoboken fuhren und weiter durch New Jersey hinauf nach Kinnelon am Kinnelon-See …
    Emmy Noether stand auf der Veranda, als sie in Kinnelon ankamen. Sie wartete auf ihren ehemaligen Studenten und Assistenten. Die Gäste waren im Haus. Sie hielt eine Hand über den Augen, um ihnen Schatten zu geben, die andere ruhte auf dem weißlackierten Knauf des Geländers. An ihrem Kragen leuchtete eine buttergelbe Stoffrose, die war viel zu groß. Wie sie vor dem hübschen weißen Holzhaus stand, über ihr das Blau des Himmels, neben ihr die mit Kerzen und frischem Laub dekorierten Tischchen, bot sie ein gravitätisches Bild, als posiere sie für ein Gemälde, das den Titel »Amerikanische Freiheit« hätte tragen können. Sie rief seinen Vornamen und streckte ihm ihre kurzen Arme entgegen und bat seine Begleiter, sie einen Augenblick mit ihrem ehemaligen Studenten, »dem besten, den sie je gehabt habe«, allein zu lassen, sie werde sie danach ausgiebig begrüßen und sich selbst auch ausgiebig vorstellen. Carl hatte Abraham Fields und der Journalistin auf der Fahrt an den Weidezäunen New Jerseys entlang von seiner großen Professorin erzählt – die beiden hatten noch nie von ihr gehört –, und er hatte ihr Wesen genau so geschildert, wie es sich im ersten Augenblick vor ihnen präsentierte: impulsiv, umweglos, kauzig und meistens warm. Ihre Freude war so ausgelassen, daß sich Carl schämte, weil vielleicht seine Gefühle, sicher aber nicht seine Fähigkeit, sie zu zeigen, mit ihr mithalten konnten.
    »Ich«, bekannte er mir gegenüber, »bin zu leichtfertig mit ihrer Freundschaft umgegangen. Ich habe mich für sie geschlagen, in Göttingen. Nicht in Moskau. Das war etwas anderes gewesen, was mit ihr, wie ich mir bald eingestehen mußte, nur sehr wenig zu tun gehabt hatte. Es dürfte mir noch heute keiner ein böses Wort über sie sagen. Ich habe das Geschenk ihrer Freundschaft beschützt, aber ich habe es nicht angenommen. Margarida mit eingerechnet, denke ich, gab es in meinem Leben keinen Menschen, der besser zu mir gepaßt hätte. Sie ist mir zugeteilt worden, wer kann beweisen, daß es nicht so war? Wenn man uns in Ruhe gelassen hätte, wäre die Schnittmenge unserer Existenzen in Frieden und Gleichklang verblieben. Alles mögliche hätte gefehlt, dem Himmel sei Dank, jeder nur denkbare Konflikt zum Beispiel. Für das, was fehlte, hätten wir einander aber nicht nötig gehabt. Es hat mir an Glauben gemangelt. Ungläubigkeit hänge mit Dürftigkeit geistiger Anlagen zusammen, behauptet Leopardi. Ich denke, er hat recht, dieser ungläubige, anmaßende, redlichen Pessimismus vorschützende, düstere Zyniker, der so viele verführt hat in jener nach Verführung süchtigen Zeit.«
    Als sie ihn, an den Unterarmen festhaltend, fragte, wie er es mit ihrer beider Geliebten, der Mathematik, halte, schämte er sich noch mehr, antwortete aber klar und ohne jede Abwehr gegen den Kitsch dieser Analogie: »Ich habe sie verlassen.«
    Es schien sie nicht zu überraschen. Sie strich mit ihrem Handrücken über seine Wange, hakte sich bei ihm ein, so gut das bei dem Größenunterschied gelingen

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