Abendland
konnte, führte ihn zur Tür und rief hinein, die Gäste dürften nun herauskommen, das Wesentliche zwischen ihnen beiden sei absolviert, jetzt habe man Hunger.
Ein gutes Dutzend Leute war der Einladung der Gastgeber gefolgt. Man saß auf der schmalen Veranda, nebeneinander wie im Kino, Blick auf die Straße, Glas in der Hand, Teller auf dem Schoß oder auf einem der Tischchen, Fruchtsaft und Kuchen, kalifornischer Wein und ungarisches Gulasch, ein lauer, duftender Frühlingsabend. Auf der anderen Seite der Straße, etwas eingerückt, standen zwei Häuser, nackt sahen sie aus, mitten auf dem Rasen, kein Baum, kein Strauch. Dahinter war der See, ein glitzerndes Band, das aussah, als würde es auf der Erde liegen und wäre nicht eingebettet in sie. Unter anderem saßen auf der Veranda: ein kieferstarker Physiker aus Boston, der sich von seinem Begleiter alles ins Ohr übersetzen oder kommentieren ließ; eine Professorengattin aus Manhattan, schon sehr weiß, die sich im Namen ihres Mannes entschuldigte, der aus irgendeinem Grund verhindert war; ein Physiker und ein Mathematiker aus Princeton, die zusammen mit Emmy Noether gekommen waren und Aktenmappen mitgebracht hatten und sich im Hintergrund hielten, als warteten sie auf ihren Auftritt; und schließlich zwei Emigrantenehepaare, eines aus München, das andere aus Aachen, und ein junger englischer Offizier in Zivilkleidung, der sich aber ohne Umschweife als Mitglied der Royal Air Force vorstellte – »Major Rupert Prichett«.
Für Emmy Noether war der mittlere Tisch reserviert, damit keiner außer Hörweite von ihr säße. Die Gastgeber können sie noch nicht lange kennen, schloß Carl daraus, denn sonst würden sie ja auch ihre Stimme kennen und wüßten, daß diese Sorge vollkommen überflüssig war. Sie bestand darauf, daß Carl neben ihr sitze. Während des Essens bedrängten sie die Gäste mit Fragen. Sie wollten wissen, wie das Leben in Deutschland sei. Ob es überhaupt noch Juden in Deutschland gebe oder ob alle bereits das Land verlassen hätten, fragte der Physiker aus Boston auf englisch, sein Begleiter übersetzte ins Deutsche, was bestimmt nicht nötig war. Die weiße Professorengattin fragte, ob es wahr sei, was man so höre, nämlich daß Hitler die Juden gegen die Radikalen in seiner eigenen Partei in Schutz nehme, daß er viele seiner eigenen Leute sogar habe hinrichten lassen, weil sie den Juden Leid angetan hätten. Die New Yorker Journalistin, selbst »eine Linke«, wie sie auch bei dieser Gelegenheit betonte, wollte wissen, inwieweit sich Deutschlands Kommunisten von den Nationalsozialisten unterschieden, ob es die Kommunistische Partei in Deutschland heute überhaupt noch gebe oder ob sie inzwischen mit der Nazipartei verschmolzen sei. Emmy Noether antwortete: »Ich bin erst seit einigen Monaten in Amerika. In Amerika weiß man mehr über Deutschland als in Deutschland. Fragen Sie mich in einem Jahr, dann werde ich alles wissen.«
Beim Kaffee geschah, was diese Party für Carl, wie er sich ausdrückte, »zu einer titanischen Sensation für sein Herz und seinen Kopf« werden ließ: Emmy Noether wandte sich ihm zu, legte ihre Hand auf seine Schulter und fragte: »Sie erinnern sich doch noch an Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin?«
Nach sechs Jahren fegte die russische Paranoia wieder durch seinen Kopf: Was, wenn diese Party in Wahrheit veranstaltet worden war, um ihn zu überführen? Wer sind all diese Leute in Wahrheit? Wer war der Mann, der ihn im Plaza beim Frühstück gestört hatte? Warum um Himmels willen hatte er ihn nicht aufgefordert, sich auszuweisen? Wie konnte dieser Mann behaupten, er kenne ihn aus Göttingen, sei mit ihm gemeinsam in Seminaren gesessen? Er war deutlich älter. So einer wäre doch aufgefallen. In den Seminaren von Frau Professor Noether saßen selten mehr als fünfzehn Studenten. Außerdem: Woher wußte dieser Mann, daß er in New York war, daß er im Plaza abgestiegen war, daß er nicht wie die anderen Gäste im Breakfast room, sondern in der Oak Bar frühstückte?
Noch ehe er seine Fassung wieder gefunden hatte, plauderte Emmy Noether in harmlosem Ton weiter: »Ich habe ihn erst vor wenigen Tagen getroffen.«
»Wen haben Sie getroffen?«
»Lawrentij Sergejewitsch. Er hat mich am College besucht, stellen Sie sich vor! Irgendwie hat er es herausgeschafft aus dem Paradies der Werktätigen, über Estland, Lettland, Finnland, Schweden, zusammen mit einem Waggon Antiquitäten, dieser Tausendsassa. Anschließend an
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