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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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vielleicht Tage, vielleicht Wochen dauern und das ich nicht gerade in Stein meißeln, aber doch zu Papier bringen würde, war ja tatsächlich etwas Außergewöhnliches, das Gefühle von Erhabenheit in einem auslösen durfte.
    »Telefoniere ich zu viel?« fragte er Frau Mungenast.
    »Nein«, sagte sie, ohne den Blick von mir zu wenden.
    »Das liegt daran«, sagte er, »daß bis auf den hier keiner von all jenen, die ich geliebt habe, mehr lebt.«
    Ich erzählte die »berühmte« Geschichte – allerdings ohne in die Details zu gehen –, als wir beide einmal gut zwei Stunden lang miteinander telefoniert hatten, und zwar keine zehn Meter voneinander entfernt. Das war noch in der Wohnung in der Anichstraße unten in der Stadt gewesen, über zwanzig Jahre ist es her. Carl war in seinem Arbeitszimmer gesessen, ich war im Gästezimmer – in »Sebastians Zimmer« – im Bett gelegen, den Hörer zwischen Kopfkissen und Ohr geklemmt. Eine wahrhaft komische Geschichte, die ebenfalls in den Sagenschatz unserer Familie eingegangen war (mein Vater lebte damals bereits nicht mehr). Carl hatte mir geraten, bei Dagmar zu bleiben; aber es war ihm nicht möglich gewesen, ausführlich von Angesicht zu Angesicht mit mir über meine Not zu sprechen und mir Trost, Linderung und Rat zu spenden; also tat er es telefonisch. Er war überaus einfühlsam gewesen, und es war mir leichtgefallen, mein Herz in den Hörer auszuschütten und Tränen hinterherzuweinen; und auch ihm schien es keine Überwindung zu kosten, mir von seinem Leid und den erlittenen Demütigungen zu erzählen, um so meinem Leid und meinen Demütigungen ihre Einmaligkeit zu nehmen. Mein Schutzengel hatte mich nicht im Stich gelassen, er hatte seine Aufgabe erfüllt; aber eben auf seine Weise. Er sei, erzählte mir Margarida, bei Stockdunkelheit an seinem Schreibtisch gesessen, korrekt gekleidet, ohne seine Krawatte zu lockern. Am nächsten Tag hatte er mit keinem Wort auf unser nächtliches Telefonat Bezug genommen; Margarida war es gewesen, die diese Geschichte in der Familie berühmt gemacht hatte.
    »Wäre er ein Jahrhundert früher geboren«, sagte ich, »er hätte wahrscheinlich eine Unmenge von Briefen geschrieben.«
    »Telefonieren ist nicht Briefeschreiben mit anderen Mitteln«, wehrte er ab. »Ein Brief ist mehr als bloß ein Ersatz für ein Gespräch. Telefonieren aber ist immer nur Ersatz und nichts weiter.«
    »Und der Ersatz hat Ihnen genügt?« fragte Frau Mungenast.
    »Ich war verrückt danach.«
    Der Schutzengel gab Leuten, die schwitzten, nicht die Hand; er konnte Körpergerüche nicht ausstehen; er mochte es nicht, wenn laut geredet wurde; und wenn jemand gestikulierte, weil ihn vielleicht die Leidenschaft bei einem Thema packte, wich er zurück. Er war der erste, den ich kannte, der sich ein Mobiltelefon zulegte – er hatte es sich aus Hongkong schicken lassen, ein wuchtiges Ding in der Form einer in ihrer Innenwölbung flachgeschabten Gurke. Er unterhielt Bekanntschaften in der weiten Welt, führte stundenlange Ferngespräche, diskutierte mit einem Kollegen auf der anderen Seite des Globus über einen Artikel in Nature oder Science oder über das gescheiterte Sozialprogramm der Clinton-Regierung oder über Vladimir Putin – den er beharrlich »Stalin im Schafspelz« nannte –; las einem Freund aus Churchills Geheimreden oder Stellen aus Henry Kissingers Memoiren vor, die er sich angestrichen hatte, oder ließ sich, während er im Lehnstuhl saß, die langen Beine weit von sich gestreckt, die Füße auf dem mit weinrotem Leder überzogenen Schemel, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, die letzte Schallplatte von Sidney Bechet zur Gänze vorspielen; oder legte ein anderes Mal den Hörer zwischen die Lautsprecher seines alten Dual-Plattenspielers oder später seines CD-Players, wenn er auf etwas Vergessenes in seiner Sammlung gestoßen war, das er irgend jemandem in London, Lissabon, Hamburg, Wien, New York oder Paris vorspielen wollte. Seine Telefonrechnungen müssen schwindelerregend hoch gewesen sein.
    Vor fünfundzwanzig Jahren, als ich in Frankfurt studierte, und auch später, als ich mein Studium beendet hatte, hatte er mich jede Woche angerufen. Wenigstens einmal. Manchmal war Dagmar am Apparat. An der Art, wie sie lachte, merkte ich, daß sie mit ihm sprach. Sie hat mir nie mitgeteilt, was er ihr erzählte, was sie zum Lachen brachte. »Du gurrst«, sagte ich. Sie sagte: »Ich tue so, als ob ich gurre, das ist der Unterschied. Und er

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