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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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tut so, als ob er mit mir flirtet.« Seine Stimme war die Stimme eines jungen Mannes, das beeindruckte sie. Sie wollte nicht glauben, daß dieser alte Mann, der nicht einmal verwandt mit mir war, solchen Anteil an meiner Person nahm. Ich habe ihr nur wenig aus der Geschichte unserer Familie erzählt. Für sie war klar, daß er ihretwegen anrief.
    Nach dem Tod meines Vaters telefonierten Carl und ich eine Zeitlang sogar täglich miteinander. Später, als ich in New York war, pendelten sich die Anrufe wieder auf einmal pro Woche ein. Ich wollte in Amerika ein neues Leben beginnen. Mitten auf einer Straße in Brooklyn beschloß ich, nie wieder nach Deutschland oder Österreich oder sonst irgendwohin in Europa zurückzukehren, und nicht etwa meine Mutter habe ich von diesem Entschluß als erstes in Kenntnis gesetzt, sondern Carl. Ich rief ihn von einer Telefonzelle aus an. Ich hatte auf den Bus gewartet und zugesehen, wie das Gerät von Angestellten der Postgesellschaft montiert wurde. Ich wechselte in dem koreanischen Restaurant daneben zwei Scheine gegen Münzen und war der erste Mensch, der diesen Apparat benutzte. Während ich sprach, standen die Monteure um mich herum und lachten und applaudierten. Carl fragte mich: » Wie willst du damit beginnen?« Diese Frage brachte mich durcheinander. Es ist eine vernünftige Frage; aber wenn du jemandem mitteilst, daß du dich soeben entschlossen hast, ein neues Leben zu beginnen, rechnest du mit einem Warum , aber nicht mit einem Wie . Ich selbst war mir ja nicht einmal sicher, ob es vielleicht nicht doch nur eine Flause war, zusammengesetzt aus dem Laubgeruch der Allee und den Polizeisirenen und den verschiedenen Rassen auf der anderen Seite des Zebrastreifens und dem blauen Himmel über der Hauptstadt der Welt; aber Carl war sich sicher, daß es keine Flause war. Kaum hatte ich den Satz von meinem neuen Leben ausgesprochen, hatte er dieses neue Leben bereits akzeptiert. Und da antwortete ich ihm: »Indem ich dich bitte, mich eine Zeitlang nicht mehr anzurufen.« Und auch das akzeptierte er ohne Warum. Er sagte: »Melde du dich.« Und sagte nichts weiter. Wartete, daß ich auflegte. Das Auflegen überließ er mir. Ich hatte ihn nicht brüskieren wollen; aber nun war es aus dem Herz und aus dem Mund, und dieser kleine Satz hatte zur Folge, daß wir zum erstenmal fast zwei Jahre lang nichts mehr voneinander hörten. Carl sagte dazu: »Deine tintendunklen amerikanischen Jahre.« Was mir, weil ich diese Zeit vor mir selbst bis in die Tinte hinein gleich formuliert hatte, einerseits unheimlich war und was andererseits wieder einmal den hoffnungslosen Gedanken in mir auftrieb, ein Geschöpf dieses Mannes zu sein, und nicht nur ich, sondern auch mein Vater, meine Mutter, mein Sohn …
    »Ich telefoniere nicht gern«, sagte Frau Mungenast. »Ich sehe ja das Gesicht nicht. Es kann ja einer etwas Freundliches sagen, aber dabei sein Gesicht gemein verziehen.« Sie erhob sich. Sie wolle uns noch etwas für den Abend herrichten, sagte sie. Ob ich ihr in der Küche helfen könne, fragte ich. Sie sagte, sie werde in den nächsten Tagen mit Sicherheit auf mein Angebot zurückkommen. Wir hörten, daß sie in der Küche das Radio einschaltete; erst Schlagermusik vom Regionalsender, dann klassische Musik.
    Carl nickte und starrte auf einen Fleck und schien mit dem Nicken nicht mehr aufhören zu wollen, und das sah traurig aus. Er trug seinen grünen, in den Falten schimmernden Morgenmantel, über dem Knoten des Gürtels hielt er mit beiden Händen die Teetasse über dem eingesackten Bauch. Ratlosigkeit breitete sich in seinem Gesicht aus, und es wurde leer, auch die Traurigkeit ging darin unter. Als wäre der Mann für Minuten aus der Welt gerückt. Kein Leben war mehr in ihm. Und so blieb es eine Weile.
    »Wir beide und das Telefon!« spielte ich einen nostalgischen Seufzer, um ihn zurückzuholen. »Das ist schon ein eigenes Kapitel, stimmt’s!«
    Er leckte sich die Lippen und schickte mir einen strafenden Blick zu. Ich hatte in einer Lautstärke mit ihm gesprochen, als wäre er nicht mehr bei Sinnen. Schließlich sagte er langsam, kontrolliert und betonte jedes Wort: »Je älter ich wurde, desto mehr differenzierten sich meine Sinnesorgane.«
    Und das war der erste Satz, den ich in C.J.C. 1 notierte.
    Auch früher schon hatte ich mir Formulierungen von ihm aufgeschrieben, wenn er zum Beispiel jemanden charakterisierte – worin er meisterlich war – oder wenn er ausgreifende Zusammenhänge

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