Abendland
mir! Charly
»Und ich«, sagte Margarida, »ich hatte in Lissabon gesessen und auf genau so einen Brief gewartet. Nachdem ich ihn gelesen hatte, habe ich die Koffer gepackt und bin mit dem Zug nach Wien gefahren. Das dauerte damals drei Tage.«
Happy-End. – Meine Mutter verliebte sich in meinen Vater – wieder oder diesmal richtig. Und mein Vater verliebte sich in sie. Carl merkte es daran, daß sich sein Musikgeschmack – er drückte sich vorsichtig aus – erweiterte. Georg Lukasser nahm einen Cowboy-Song in das Programm seiner Combo auf, und er kündigte ihn auf der Bühne an mit: »Die nächste Nummer ist für Agnes: When I First Laid Eyes On You .«
Ein halbes Jahr später haben sie geheiratet, und dann bin ja auch ich bald auf die Welt gekommen.
5
Carl war enttäuscht, daß ich meinen Laptop nicht bei mir hatte. Ich hätte, so stellte er sich den Idealfall vor, an den Vormittagen und den Nachmittagen aufgeschrieben, was er mir an den Abenden zuvor erzählen würde. Das funktioniere nicht, sagte ich, ich könne erst mit der Niederschrift beginnen, wenn ich die ganze Geschichte kenne; außerdem entspreche so ein hohes Tempo nicht meiner Arbeitsweise. Das sah er ein. Widerwillig. Ich nehme an, er hätte gern das eine oder andere Kapitel gelesen, bevor ich zurück nach Wien gefahren wäre – weil er wohl damit rechnete, daß später dafür keine Zeit mehr sein würde. Noch bevor er mich angerufen hatte, hatte er von Frau Mungenast einen Stoß mit Schulheften aus der Stadt besorgen lassen. Ja, er war sich sicher gewesen, daß ich kommen, und ebenso sicher, daß ich ihm seinen Wunsch erfüllen würde, und er wollte, gestand er mir mit seinem charmantesten Lächeln, für jeden Fall ausgerüstet sein. Seit meiner frühesten Jugend verwende ich Schulhefte für Tagebuchaufzeichnungen, später für Notizen und Recherchen; er wußte das und hatte es nicht vergessen. (Sie habe, erzählte mir Frau Mungenast später, zweimal fahren müssen; die gewöhnlichen Schulhefte seien ihm zu häßlich gewesen. Er habe bei sämtlichen Papiergeschäften Innsbrucks angerufen; bei Bier & Biendl in der Leopoldstraße habe man ihm schließlich versichert, Hefte in schlichter Aufmachung zu führen, von denen allerdings eines so viel kostete wie zehn von den ordinären.) Und so saß ich bereits am Nachmittag – noch keine zwei Stunden nachdem ich in Lans angekommen war – neben seinem Lehnstuhl auf der Couch, hatte ein weiches Kissen unter meinem Hintern und ein Schreibheft auf den Knien, auf dessen Schildchen ich zu unser beider verlegenen Belustigung »C.J.C. 1« schrieb und doppelt unterstrich. Das war alles übertrieben, hatte etwas kindlich Aufgeregtes an sich; was von Carl ausging, mich aber rasch ansteckte. Er rührte mich – seine schnellen Atemstöße, seine unsteten Hände, beides nicht typisch für ihn. Wir verhielten uns wie zwei Zehnjährige, die Interview spielten – »erst bist du der Prominente, dann ich …«. Frau Mungenast hatte das Geschirr von draußen hereingetragen, hatte frischen Tee aufgebrüht und Brote mit Salami und Käse hergerichtet. Ich sah ihr Lächeln, und ich deutete es als ebenso spöttisch wie mütterlich.
»Warum hast du dich so lange Zeit nicht gemeldet?« fragte er.
Immer war er es gewesen, der angerufen hatte. Außer bei Katastrophen. Bei Katastrophen waren die Lukassers über die Straße zum Gemischtwaren Lammel gelaufen, als sie selbst noch keinen Anschluß besaßen. »Und als ein Jahr vergangen war«, versuchte ich es, der Situation entsprechend, mit kindlicher Ehrlichkeit, »fiel mir ein, daß es eigentlich ungehörig war vorauszusetzen, daß immer du derjenige sein mußt, der anruft. Aber nun war bereits zu viel Zeit vergangen.«
Frau Mungenast setzte sich zu uns. Carl schien nichts dagegen zu haben. Ich schloß daraus, daß unsere eigentliche Arbeit erst am Abend beginnen würde, wenn sie nach Hause gefahren war.
»Wenn ich ihm einen Gegenstand zuordnen müßte«, wandte ich mich an sie, »dann das Telefon.« Sie sah mich so mitfühlend an, als wüßte sie über meine Sorgen, Ängste und Paniken der vergangenen Wochen Bescheid – ein hysterisches Beichtbedürfnis drängte sich in meine Kehle, was ich aber durchgehen ließ, schließlich war mir erst vierundzwanzig Stunden zuvor versichert worden, ich sei »nach allem, was wir wissen können«, vom Krebs geheilt; und daß mein fünfundneunzigjähriger Freund sich anschickte, sein Leben im Rückblick zu einem Drama zu gestalten, das
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