Abendland
zumal er es vor Frau Mungenast gesagt hatte.
»Verschieben Sie Ihren Ausflug doch auf morgen«, versuchte nun sie zu vermitteln. »Morgen ist besseres Wetter. Und heute abend werde ich das Pflaster wechseln.«
»Erstens ist das kein Ausflug« – Carl hackte die Worte in Richtung ihres Gesichts – »sondern ein simpler Fußmarsch von nicht einmal zehn Minuten.«
»Und zweitens?« fragte ich. Was frech war.
Er drehte mir langsam den Kopf zu und sagte: »Willst du mir dein Leben erzählen?«
Wir hielten es, wie er es wollte.
Der See lag unter einer weißen Decke, mit dem Auge ließ sich nicht feststellen, wo er begann und was noch begehbares Ufer war; es auszuprobieren war zu riskant. Carl wünschte, daß ich ihn über die flachen Stufen hinauf zur Terrasse des Cafés schiebe; er wollte unter dem fröhlich luftigen Vordach mit dem filigranen, rosa, hellblau und türkis gestrichenen Gestänge sitzen und hinunter auf den See schauen; wie er es in den Sommermonaten an den frühen Vormittagen tat – getan hatte. Der Weg war nicht zu erkennen; aus den nur angedeuteten Wellen auf der Schneedecke ließ sich erraten, wo die Stufen waren. Ich gebe zu, zuerst stellte ich mich absichtlich ungeschickt an; ich wollte ihm demonstrieren, daß es unmöglich war, ihn und den Rollstuhl die zwanzig Meter zur Terrasse hinaufzubefördern. Der Schnee reichte Carl bis an die Waden, es war, als würde ich einen Pflug vor mir herschieben. Carl war ungeduldig, klopfte mit seinen behandschuhten Händen auf die Armlehne. Die Decke, in die ihn Frau Mungenast gewickelt hatte, war weiß wie das Federbett eines Kindes, und auf seinem Hut lag ein weißer Pelz. An den Reifen pappte der Schnee. Bald tat ich nicht mehr absichtlich ungeschickt, ich nahm meine Kraft zusammen, biß auf die Zähne, daß die Kiefer schmerzten und der Schweiß an Nacken und Rückgrat mein Hemd durchnäßte. Ich spürte die Narbe in meinem Unterleib. Sicherheitshalber hatte ich meine Unterhose dreifach ausgepolstert.
»Es ist nicht möglich«, sagte ich. Mein Herz raste, und mir war ein wenig schlecht.
»Wir können nicht hier mitten im Schneetreiben stehenbleiben«, maulte er – ja, es war ein Maulen, ein weinerliches und zugleich flegelhaftes Maulen; mir wäre lieber gewesen, er hätte mir einen soldatischen Befehl erteilt.
»Wir könnten uns unter das Dach bei den Umkleidekabinen stellen«, sagte ich.
»Ich war noch nie bei den Umkleidekabinen. Soll ich mit den Schulkindern Tischtennis spielen? Außerdem sehen wir von dort den See nicht.«
»Es ist nichts zu sehen vom See.«
»Dreh den Rollstuhl um«, befahl er nun doch, »dreh ihn um und kratz den Schnee vorne weg! Versuch, ihn zu ziehen! An den Vorderrädern liegt es, immer liegt es an den Vorderrädern! Die Rollstühle sind unüberlegt gebaut.«
»Laß es uns morgen versuchen«, bat ich. »Ich habe nicht die Kraft dazu, und die Kraft, die ich habe, brauche ich, um wieder den Weg hinauf zur Straße zu kommen. Sonst sitzen wir tatsächlich hier unten fest.«
»Gut«, sagte er, »ich biete dir einen Kompromiß an. Nach Hause gehen wir über den hinteren Weg durch den Wald. Das ist leichter für dich. Die überschüssige Kraft kannst du hier einsetzen.«
»Nein«, sagte ich, »ich weiß, was ich nicht tun will!«
»Gut. Hilf mir auf! Dazu wirst du ja noch Kraft genug haben. Ich werde gehen! Gib mir deinen Arm!«
»Auch das will ich nicht tun!«
»Gut. Ich werde ohne deine Hilfe gehen!«
»Das ist absurd!« rief ich. »Was um Himmels willen ist denn so wichtig, daß es unbedingt heute dort oben geschehen muß?«
»Was bildest du dir ein!« fuhr er mich an. »Für mich ist ein Tag wie für dich ein Jahr. Wie würde es dir gefallen, wenn ich sagte, leg dich hin, hab Geduld, es dauert ohnehin nur ein Jahr, bis du wieder ohne Windeln draußen herumspazieren kannst?«
Ich stampfte mit den Schuhen zwei Fahrspuren hinauf zum Café, für jedes Rad eine, übertrieb dabei meinen Hinkegang, als wäre ich Quasimodo, kippte den Rollstuhl und balancierte ihn rückwärts auf den Hinterrädern Schritt für Schritt nach oben. Und ich holte grob aus dabei, zerrte und riß und schüttelte, und ich sah, wie seine dürren Schultern unter jeder dieser Bewegungen zitterten und wie der Schnee von der Krempe seines Hutes auf seine Schultern und seine Brust fiel. Aber schließlich waren wir oben. Oben auf der Terrasse des Strandcafés, wo ich so oft gesessen und mir vorgeträumt hatte, ich sei auf den Salomon-Inseln oder auf
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