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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hinaussah, konnte man sich einbilden, es hätte nie einen Krieg gegeben. Wer hier vorher gelebt hatte, wußte er nicht. Er wohnte zusammen mit zwei Soldaten, die waren zu seinem Schutz bestellt, einer war zudem sein Chauffeur, der ihn jeden Morgen in die Stadt und am Abend wieder nach Hause fuhr. Zu Mittag aß er meistens in dem Hamburger-Grill im Keller des Justizpalastes, für Abendessen und Frühstück versorgte er sich im PX, dem Supermarkt für Armeeangehörige. Auf die Idee, sich mit Basteln von Schmuckkästchen die freie Zeit zu vertreiben, war er gekommen, als er an einem der ersten Tage durch die Stadt gegangen war und einen Mann zwischen den Trümmerhalden beobachtete, der solche Blechschatullen verkaufte. Er saß, in einen schwarzen Mantel gehüllt, auf einem Ziegelstein, vor sich auf einem Brett hatte er etwa ein Dutzend fertiger Kästchen aufgereiht, und ohne den Blick auch nur einmal zu heben, um vielleicht nach Kundschaft zu spähen, klopfte er das Blech für ein nächstes Stück zurecht. Nicht weit von ihm hockten eine Frau und zwei Kinder um einen Behelfsofen, der aus einem zurechtgebogenen Stück Zinkblech und einer Dachrinne gefertigt war. Auf dem Ofen stand ein Topf mit Suppe. Die Frau gab Abe ein Zeichen. Er trat zu ihr hin und sagte: »Ich spreche Deutsch.« – »Kaufen Sie ihm etwas ab«, sagte die Frau. – »Ist er Ihr Mann?« fragte er. – »Und wenn es nicht so wäre?« – »Dann ist es eben nicht so«, gab Abe in dem gleichen Ton zurück. Er ging vor dem Mann in die Hocke, nahm ein Kästchen in die Hand, fragte: »Woraus sind die gemacht?« – »Aus euren Konserven«, gab der Mann unverzüglich zur Antwort, hob langsam den Blick und musterte Abe. »Warum sprechen Sie Deutsch?« fragte er. »Ich habe es gelernt, in Amerika.« – »Und waren Sie schon einmal in Deutschland?« – »Nein.« – »Und gefällt es Ihnen?« Abe zuckte mit der Schulter, sagte nichts. Eine Weile schaute er dem Mann noch bei der Arbeit zu, schließlich spazierte er zurück zum Gerichtsgebäude. Am selben Abend noch säuberte er zwei Konservendosen, in denen gelber Käse aus Texas gewesen war, schnitt sie an den Lötstellen auf, klopfte sie mit einer Steinguttasse auf dem Küchentisch flach, holte aus seinem Necessaire Nagelschere und Nagelfeile und probierte sein erstes Stück. Er durchsuchte das Haus nach Werkzeug und geeignetem Material – Draht, Glas, Stoff. Seine Ansprüche wuchsen, die Kästchen wurden von Mal zu Mal barocker, ihre Konstruktion komplizierter. Es gab zweistöckige mit Schublädchen und einem Deckel mit Scharnier. In den Prozeßpausen zeichnete er Skizzen.
    »Das sind Kunstwerke«, sagte Carl.
    »Such dir eines aus«, sagte Abe. »Und wenn du wieder gehst, denk daran: Es ist nicht nötig, daß du dich nicht bei mir meldest.«
    »Danke«, sagte Carl.
    Abe hatte für seinen Freund ein Feldbett organisiert. In dem Häuschen war Platz genug, Carl hatte ein kleines Zimmer für sich allein, oben zwischen schrägen Wänden.
    Am ersten Abend nach Carls Ankunft gingen sie in die Felder hinaus, die gleich hinter dem Haus begannen. Einer der Soldaten folgte ihnen in einigem Abstand.
    Erst gingen sie auf einem Feldweg. Das Gras auf dem Mittelstreifen war aufgeschossen und verdorrt und vom Wind zur Seite gekämmt worden. Wer war in den vergangenen Sommern hier gegangen, mit einem Fuhrwerk gefahren, einem Traktor? Sie kamen an einem Bauernhof vorbei, in einem der Fenster brannte Licht. Neben dem Scheunentor lehnten Schaufeln, Rechen, Harken. Sie verließen den Weg, schritten über das Gras hinweg, über Stoppelfelder, über Herbstklee.
    »Du bist übrigens Journalist für eine kleine deutsche Zeitung in Minnesota«, sagte Abe. »Denk dir einen Namen aus, einen deutschen, den vergessen sie gleich wieder. Als die Nazis in Österreich einmarschiert sind, bist du geflohen. Weil du Halbjude bist oder Vierteljude. Den Unterschied kennen sie nicht und ist ihnen auch egal. Du bist unter deinem amerikanischen Namen akkreditiert.«
    »Und wenn das jemand nachprüft?« fragte Carl.
    »Dafür interessiert sich hier niemand.«
    Sie gelangten an einen Bach, der von Weidenstümpfen gesäumt war. Er schlängelte sich durch die Wiese, sein Wasser blitzte und zog lautlos dahin, träg wie Öl. Kein Rufen von einem Tier. In ihrem Rücken den Soldaten, der durch die Nase atmete. An den Schläfen spürten sie einen matten, kühlen Hauch von den Hügeln herunter. Es roch säuerlich nach Sägemehl. Der Boden war moosig, an

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