Der Vogelmann
1. KAPITEL
N orth Greenwich, Ende Mai. Es war drei Stunden vor Sonnenaufgang, und der Fluß wirkte verlassen. Dunkle Kähne zerrten flußaufwärts an ihrer Vertäuung, und eine Flutwelle hob sanft kleine Schaluppen aus dem Schlamm, in dem sie ruhten. Nebel stieg vom Wasser auf und zog landeinwärts, an unbeleuchteten Läden mit Schiffszubehör vorbei, über den verlassenen Millennium Dome, über einsames Ödland und seltsame Mondlandschaften hinweg – bis er sich schließlich nach einer halben Meile im Inland zwischen dem geisterhaften Räderwerk eines halb aufgegebenen Betonwerks niederließ.
Plötzlich flammten Schweinwerfer auf: Ein Polizeiwagen bog mit geräuschlos blinkendem Blaulicht in die Lieferstraße. Momente später folgten ein zweiter und ein dritter. Während der nächsten Stunde trafen weitere Polizeiwagen auf dem Gelände des Betonwerks ein – acht Streifenwagen, zwei Ford Sierra und der weiße Transitbus des Kamerateams der Gerichtsmedizin. Am Eingang der Lieferstraße wurde eine Sperre errichtet, und Polizisten des zuständigen Reviers wurden abgeordnet, den Zugang von der Flußseite her abzuriegeln. Der erste Kriminalbeamte, der das Gelände betrat, setzte sich sofort mit der Fernsprechzentrale Croydon in Verbindung, um die Funknummern des Area Major Investigation Pools (AMIP) zu erfragen, und fünf Meilen entfernt wurde Detective Inspector Jack Caffery von Team B des AMIP aus dem Schlaf geweckt.
Blinzelnd blieb er ein oder zwei Minuten im Dunkeln liegen, sammelte seine Gedanken und wehrte sich gegen den Drang, wieder einzuschlafen. Dann holte er tief Luft, nahm alle Kraft
zusammen, schwang sich aus dem Bett, ging ins Badezimmer, klatschte sich Wasser ins Gesicht und zog sich an – nicht zu gehetzt, besser, man kam vollkommen wach und gelassen an. Jetzt die Krawatte, etwas Zurückhaltendes, kein Glenmorangie mehr während der Bereitschaftswoche, Jack, schwör das jetzt, schwör es, die Leute vom CID, vom Criminal Investigation Department können es nicht leiden, wenn wir toller aussehen als sie, den Piepser und Kaffee, mengenweise Instantkaffee, mit Zucker, aber ohne Milch, keine Milch, und vor allem: Kein Essen, man weiß ja nie, was man sich ansehen muß. Er trank zwei Tassen, fand die Wagenschlüssel in der Tasche seiner Jeans und fuhr, vom Koffein inzwischen hellwach, durch die verlassenen Straßen von Greenwich zum Tatort. Sein Vorgesetzter, Detective Superintendent Steve Maddox, ein kleiner, frühzeitig ergrauter Mann, der, tadellos wie immer, in einen steingrauen Anzug gekleidet war, wartete bereits am Eingang des Betonwerks auf ihn. Maddox ging unter einer einsamen Straßenlaterne auf und ab, spielte mit dem Wagenschlüssel und kaute auf der Innenseite seiner Backe.
Er sah Jacks Wagen heranfahren und ging zu ihm hinüber; er legte den Ellbogen aufs Dach, beugte sich durchs offene Fenster und sagte:
»Ich hoffe, Sie haben noch nicht gefrühstückt.«
Caffery zog die Handbremse an. Er nahm Zigaretten und Tabak von der Ablage. »Großartig. Genau das, was ich hören wollte.«
»Die Leiche dort drin sieht ziemlich übel aus.« Er trat zurück, als Jack aus dem Wagen stieg. »Weiblich, zum Teil eingegraben. Mitten im Niemandsland abgeworfen.«
»Sind Sie schon drinnen gewesen?«
»Nein, nein. Das CID hat mich kurz ins Bild gesetzt. Und, ähm …« Er sah über die Schulter zu einer Gruppe CID-Beamter hinüber. Als er sich wieder umdrehte, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Jemand hat eine Autopsie an ihr vorgenommen. Die typische Y-Reißverschlußtechnik.«
Jack hielt inne, die Hand auf die Wagentür gelegt. »Eine Autopsie? «
»Ja.«
»Dann ist sie vermutlich aus einem Pathologielabor hierherspaziert.«
»Ich weiß …«
»Ein Ulk von Medizinstudenten …«
»Ich weiß, ich weiß.« Maddox hob die Hände, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Es fällt eigentlich nicht in unseren Zuständigkeitsbereich, aber hören Sie …« Er sah wieder über die Schulter und beugte sich näher. »Hören Sie, gewöhnlich sind die Leute vom CID Greenwich recht freundlich zu uns. Wir wollen sie bei Laune halten. Es wird uns nicht umbringen, wenn wir einen kurzen Blick auf sie werfen. In Ordnung?«
»In Ordnung.«
»Also gut.« Er richtete sich auf. »Jetzt zu Ihnen. Wie geht’s denn? Meinen Sie, Sie sind bereit?«
»Verdammt, nein.« Caffery warf die Tür zu, zog seinen Ausweis aus der Tasche und zuckte die Achseln. »Natürlich bin ich nicht bereit. Wann werde ich das je
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