Abendland
Tristan da Cunha oder irgendwo im Amazonasdelta oder in einer Wüstenoase, ein stefan-zweigscher Emigrant oder ein joseph-conradscher Abenteurer.
»Es wird schon nichts in deinem Bauch kaputtgegangen sein«, kicherte er, und ich merkte wohl, das war nicht mehr zynisch gemeint, es sollte ein Kumpanenscherz sein, seine Art, sich bei mir zu entschuldigen, und augenblicklich war Frieden zwischen uns.
Aber dann verließ ihn der Mut.
»Ich weiß ja, daß Abe unsere Geschichte lang und breit vor dir ausgewalzt hat«, sagte er. »Ich brauche sie also nicht zu wiederholen. Wir hätten uns den Weg hierher tatsächlich sparen können. Bau eine kleine Novelle daraus! Das soll ja deine Stärke sein, habe ich mir sagen lassen. Material hast du genug, denke ich doch. Es war ein knappes Jahr wie im Fieber. Weiter kein Wort von meiner Seite darüber! Mach einen Libertin aus mir – ganz, wie du willst. Schreib: Die große Freiheit beginnt, wenn das große Gewissen abgeschafft ist. Ich habe sechs Jahre mit dem Gedanken gelebt, einen Mann getötet zu haben – und nicht in Notwehr und nicht im Affekt! Es war Mord. Bevor ich Lawrentij Sergejewitsch die Faust gegen die Brust schlug, hatte ich mir gedacht: Gleich werde ich etwas tun, was ich bisher in meinem Leben nicht für möglich gehalten habe. Ich hatte es nicht einfach nur in Kauf genommen, daß er an dem Schlag sterben könnte; ich hatte damit gerechnet, ich hatte es beabsichtigt. Und natürlich hatte ich es nicht getan, weil ich die Beleidigung an meiner Professorin rächen wollte. Auch nicht, wie ich mir unmittelbar danach zusammenbastelte, weil ich fürchtete, der Mann sei in geheimdienstlicher Mission mir beigestellt worden, um mich zu vernichten. Ich war in eine Situation geraten, in der ich mich für oder gegen etwas Außergewöhnliches entscheiden konnte, und ich hatte mich für das Außergewöhnliche entschieden. Und nun, da ich erfahren hatte, daß Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin lebte, war mir, als wäre in Wahrheit ich es, der von den Toten auferstanden war. Ich fühlte mich über alles hinausgehoben. In diesem Zustand befand ich mich, als Abe und ich, aus Kinnelon zurück, am Broadway ein paar Biere tranken. Er plapperte und plapperte, erzählte von seinem Freund, auf den er zugunsten von dessen Familie verzichtet hatte, lauter Zeug, das mir wie Gerümpel vorkam, das sich einer um den Hals hängt. Abe kam mir wie ein spießiger Buchhalter vor. Du willst mich verführen, dachte ich. Du? Dann tu es doch! Jawohl, ich dachte: Für einen Einstieg in eine solche Erfahrung ist dieses weiche Herz genau richtig, da werde ich weich landen, falls es mich hinhauen sollte. Ich weiß, das hat er nicht verdient. Er hat sich nicht ausgekannt bei mir, der Clown. Ist es ein Wunder? Hat sich Theorien zurechtgelegt. Dieser Psychologe! Ich habe mich ihm gegenüber verhalten wie ein Schwein. Ich habe ihn mir angesehen, wie er sich als großer Verführer vorgekommen ist. Verführer und Pädagoge in einem. Ich Alkibiades, er Sokrates. Es würde mich tatsächlich interessieren, was Abe dir über mich erzählt hat. Erzähl’s mir nicht, kein Wort! Schreib’s auf! Abe war ein tratschsüchtiges Waschweib, dem Sokrates nicht unähnlich, nur daß er besser ausgesehen hat als der. Schreib’s genauso tratschsüchtig auf, wie er es dir erzählt hat! Er wird kein Detail ausgelassen haben, nehme ich an. Das war sein größter Fehler, sein Tratschmaul. Es war aber auch sein einziger Fehler. Und der genügte, um diesen heiligen Narren einsam werden zu lassen, stell dir vor! Ich sage: Wenigstens hatte er diesen Fehler. Mein Bedarf an Heiligen ist nämlich gedeckt. Mehr als eine Begegnung mit einem Heiligen pro Leben wäre wahrscheinlich auch gar nicht gesund, was meinst du? Der liebe Gott, falls es ihn gibt, hat mich mit einem pragmatischen Mißtrauen gegenüber allem Transzendenten ausgestattet. Recht hat er gehabt. Warum hast du mir eigentlich nie gesagt, daß Abe dir alles erzählt hat?«
Weil ich es Abe versprochen hatte, deshalb. Weil Abe gesagt hatte, er sei in Carl verliebt gewesen wie in keinen anderen Mann, und daß ihm kein anderer Mann im Leben so weh getan habe wie Carl. Deshalb.
»Woher weißt du überhaupt, daß mir Abe davon erzählt hat?« fragte ich.
»Weil er« – inzwischen hatte ihn seine schlechte Laune wieder in ihr Netz gezogen – »es mir am Telefon gestanden hat. Übrigens, noch während du bei ihm warst. ›Er sitzt drüben am Klavier‹, sagte er. Ich hörte, wie du
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