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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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welche Schauplätze als szenischen Hintergrund zu welchen Geschichten er auswählen wollte. In C.J.C. 4 steht dazu die folgende Überlegung. Sie ist im Zorn geschrieben, und zwar am zehnten Abend meines Besuches – also genau in der Mitte unserer Zeit. Es war der einzige Abend, den ich nicht gemeinsam mit Carl und auch nicht in seinem Haus verbracht habe, sondern unten in Innsbruck im Hotel Central.
    Die Themen legt er fest, zum Beispiel: die Meister – Edith Stein, Emmy Noether, Abraham Fields. Oder die Schüler – Georg Lukasser, Agnes Lukasser, Sebastian Lukasser. Oder die Geheimnisse – Pontrjagin, die »krokantartige Affäre«. (Das dritte Geheimnis kannte ich in der zehnten Nacht noch nicht, das hatte er sich für den Schluß aufgespart.) Die Ausgestaltung der Themen aber gibt er frei für die Improvisation – nämlich durchaus für meine Improvisation. Duke Ellington soll einmal gesagt haben, die Melodien, die Duke Ellington einfallen, seien zu gut, um sie Duke Ellington allein zu überlassen, alle Musiker des Orchesters sollen glauben dürfen, sie hätten an dem großen Werk teilgehabt. Nur Egomanen wie der Duke oder Carl, die mit jedem zu sprechen bereit sind, aber niemandem zuhören, schaffen es, sich einzubilden, jeder Mensch auf der Welt könne nicht anders als glücklich sein, wenn er von ihnen eine Rolle zugewiesen bekommt. Sein Leben soll ich erzählen? Nicht mehr und nicht weniger? Ja. Aber das ist nur ein Teil der Inszenierung. Am Ende seines langen Lebens will er dem langen Leben den lebenslang vermißten Sinn geben, indem er es zu einer großen Symphonie verkomponiert, besser: zu einer Oper – aufzuführen über mehrere Wochen in der Villa Candoris in Lans. Wem es an Genie mangelt, um ein großer Dichter, Musiker, Künstler zu werden – oder ein großer Mathematiker –, der aber ein Leben lang den Genius so inbrünstig angebetet und unter dem Mangel gelitten hat und sich mit der ihm nicht gewährten Bevorzugung partout nicht abfinden kann, was bleibt dem anderes übrig, als sein Leben selbst zu einem Kunstwerk zu erklären? Die Medici haben ihr Leben zu einer Stadt arrangiert – nicht sie waren Florentiner, Florenz war eine Medici. Shakespeare ist von seinem Genius restlos okkupiert worden, so daß wir für vierhundert Jahre Material hatten, um über den Hamlet nachzudenken, aber so gut wie nichts über seinen Schöpfer wissen. Der Genius ist eine Quelle, hinter der immer mehr ist, als aus ihr fließt. Also besteht wenigstens theoretisch die Möglichkeit, daß die wahre Größe des eigenen Daseins, als es noch dauerte, lediglich nicht bemerkt worden war; daß es also erst am Ende in der Inszenierung in ihrer werkhaften Dimension erfaßt wird – von den anderen, aber vor allem von ihm selbst. Inszenieren ist natürlich ein viel zu schwaches Wort – neu schaffen will er sein Leben aus der Erzählung. Hinter seiner Bewunderung für meinen Vater vermute ich heute Herablassung. Sein überwältigendes Selbstvertrauen gab meiner Phantasie stets zu verstehen: Letztendlich sind auch Michelangelo, Mozart, Shakespeare, Einstein – und Georg Lukasser – nichts weiter als Zuträger jener wahren Auserwählten, die reich genug oder clever genug oder kultiviert genug sind, um deren Werke zu genießen. Zu diesen Auserwählten zählt er sich ohne Zweifel. Erstere mögen Sieger sein in einem mystischen Ringen mit ihrem Genius, letztere sind Gewinner, und zwar in einem handfesten, meist sogar handfest materiellen Sinn. Sein Leben lang hatte er es verstanden, den innersten Kern unter dem Pingpong seiner Ironie zu verbergen; um ein Die-Wahrheit-und-nichts-als-die-Wahrheit geht es ihm in seiner »Lebensbeichte« nicht, wohl auch nicht um die Inventur, die er mir vorlegen wollte, mir, dem »einzigen Menschen von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt«, wie die Lockformel lautete. Und worum geht es ihm wirklich? Um die Befriedigung seiner Eitelkeit? Das ist Tarnung. Es geht ihm um Rache, um eine advokatenhafte Rache. Was er vor mir inszeniert, ist die Generalprobe für das Plädoyer, das er halten will, wenn er als Ankläger vor den lieben Gott tritt: Warum hast du den Genius an mir vorüberziehen lassen?
    Als ich das in mein Schulheft geschrieben hatte, ging es mir besser.
3
    Die Geschichte von der »krokantartigen Affäre« schien Carl nicht in die Kulisse eines vom Kaminfeuer erwärmten Salons zu passen und paßte ihm auch nicht zu einem Spaziergang durch das Dorf und, trotz ihres Copyrights auf

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