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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Kommen! Das Wetter ist prachtvoll hier, blauer Himmel. Ich sitze hier, in Decken gehüllt, auf meinem Balkon in der frischen Luft und trinke meinen Kaffee, und die Vögel zwitschern, und durch das Radio hört man ab und zu von Wien die Stimmung …«
    Göring brüllte vor Lachen, und Ribbentrop, der ein paar Köpfe weiter auf der Anklagebank saß, stimmte heftig nickend in das Lachen ein. Und Heß, ehemals der Stellvertreter des Führers, der bisher nur einen einzigen Satz von sich gegeben hatte, nämlich »I can’t remember«, fing ebenfalls zu lachen an, ein hohes Keckern, in Paketen ausgestoßen, dazwischen pfeifendes Luftholen. Sein kalkiges Kittgesicht zitterte, die Brauen, die wie dunkle Balken waren, hoben und senkten sich. Alderman mußte immer wieder neu ansetzen. Lordrichter Lawrence ermahnte die Angeklagten zur Ruhe. Aber das Lachen war wie Feuer, es sprang von Heß über auf Schirach, auf Saukel, Papen, Kaltenbrunner, Neurath, Frank, Rosenberg und die anderen und auch auf Jodl, Keitel, Dönitz und Raeder in ihren nackten Uniformen, von denen alle Rangabzeichen abgetrennt waren. Und nun lachten alle. Die Männer lachten wie Buben nach einem langen Vormittag in der letzten Schulstunde, wenn auf einmal jedes Wort, das der Lehrer sagt, zu einem Witz wird, über den man sich ausschütten möchte. Als Alderman zum drittenmal ansetzte, um die Passage mit den zwitschernden Vögeln vorzulesen, wurde er selbst vom Lachen erfaßt. Erst stolperte er nur über ein Wort, schließlich konnte er nicht mehr weiter, er versuchte, sich zu beherrschen, wollte den Lachkrampf durch Konzentration zur Entspannung bringen. Er preßte die Lippen aufeinander, aber das ging nicht gut. Er prustete aus der Nase, was ja noch viel komischer wirkt, als frei aus dem Mund heraus zu lachen, und nun sprang das Lachen auf die anderen Vertreter der Anklage über und auf die Verteidiger und auf die Wachesoldaten mit ihren weißen Helmen, Schlagstöcken und Pistolentaschen und zuletzt auf die Richter. Göring riß sich die Kopfhörer herunter, hob die Arme Mr. Alderman entgegen, es sah aus, als wollte er ihn umarmen, und wandte sich schließlich der Angeklagtenbank zu, dirigierte mit den Zeigefingern das Gelächter, als wären die da eine Blaskapelle, die einen Marsch spielte. Auch Abraham lachte; aber Carl lachte nicht.
    Lordrichter Lawrence unterbrach auf Antrag seines sowjetischen Kollegen Generalmajor Nikitschenko die Sitzung. Die Angeklagten durften ihren Platz nicht verlassen, das Gericht zog sich zurück.
    Carl beobachtete die Angeklagten, und wider Willen habe er Mitleid für diese Männer empfunden, wie sie sich auf die Schenkel schlugen und einander in die Arme fielen, mit Fingern aufeinander deuteten und sich im Falsett ihre Namen zuriefen, wie sie mit ihren Fäusten auf die Pulte trommelten und sich glückliche Tränen aus den Augen wischten. Das Lachen brachte etwas zustande, was unmöglich war: Es schaffte Gleichheit – wenigstens für einige Minuten. Es ließ den Trug entstehen, daß in diesem Raum Gleichheit herrschte: Sie waren alle gleich, sie waren aus Fleisch und Knochen, trugen Kleidung und verdauten, sie atmeten dieselbe Luft, und sie lachten über dasselbe. Hier saßen Angeklagte und Ankläger, Richter, Verteidiger, Wachsoldaten – das Lachen machte sie gleich.
    Es gibt Fotos von dieser Szene. Die Presse hatte die Erlaubnis, jederzeit zu fotografieren; damit die Blitzlichter den Ablauf der Verhandlung nicht störten, war der Raum ständig mit Scheinwerfern ausgeleuchtet (weswegen es bisweilen unerträglich heiß im Gerichtssaal war). Abe sah sich einige dieser Fotos Tage später an. In die richtige zeitliche Folge gebracht, dokumentierten sie sehr gut das Entstehen dieser gespenstischen Szene. Auf dem ersten Bild lachte nur Göring. Auf dem zweiten lachten bereits Heß, Kaltenbrunner, Ribbentrop und Schirach. Auf den nächsten Bildern lachten alle Angeklagten und auch schon einige der Verteidiger, die in vier langen Bänken vor ihren Klienten saßen. Auf den folgenden Bildern lachten alle: die Soldaten unter ihren weißen Helmen hinten an der Wand, die Stenographen, die Gerichtsdiener, die Ankläger – Franzosen, Sowjets, Amerikaner und Briten –, die Dolmetscher und Dolmetscherinnen hinter ihren Glasscheiben; selbst der sonst so gravitätische britische Lordrichter Geoffrey Lawrence lachte mit weit aufgerissenem dunklem Mund. Ebenso Francis Biddle, sein amerikanischer Kollege, auf dessen hoher Stirn das Licht der

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