Abendland
Scheinwerfer reflektierte wie ein Funke des Glücks. Professor Henri Donnedieu de Vabres, der Frankreich auf dem Richterstuhl vertrat und immer auf kühle Distanz bedacht war, lachte mit flehentlich erhobenen Händen. Der amerikanische Ankläger Sidney Alderman – Auslöser der Szene – wischte sich die Augen, als wäre er betrunken und jemand hätte ihm einen unanständigen Witz erzählt. – Auf allen Bildern waren auch Abe und Carl zu sehen. Abe sah sich selbst lachen und sah Carl: ernst. »Als wäre ihm«, so formulierte es Abe vor mir, »als letztem aufgetragen, an allem zu leiden.« Mit beiden Händen hielt er seinen Schreibblock fest. Weil hier jeder lachte, weil das Lachen der Normalzustand in dieser festgehaltenen Welt war, wirkte er komisch, und in der Serie der Bilder wirkte er noch komischer. Ein Clown. Wie ein in die Länge gezogener, blonder Buster Keaton. – Und dann habe er noch einen entdeckt, der nicht lachte, erzählte Abe, nämlich Arthur Seyß-Inquart. Sein Blick war – so schien es jedenfalls auf einem der Fotos – auf Carl gerichtet. Er beobachtete ihn. Auf diesem Foto lachte er nicht mehr. Auf dem Bild, das vor diesem aufgenommen worden war, lachte Seyß-Inquart noch, aber schon nicht mehr so ausgelassen wie auf dem Bild vor diesem Bild – schon hatte er den Kopf gewendet, es war, als bemerkte er diesen ihm fremden Mann gerade in dem Moment, als der Fotograf auf den Auslöser drückte.
Die Sitzungsunterbrechung dauerte nicht länger als eine Viertelstunde. Richter, Ankläger und Verteidiger kamen in den Saal zurück, die Verhandlung wurde fortgesetzt. Aber sie wurde nicht an dem Punkt fortgesetzt, an dem sie unterbrochen worden war.
»Hoher Gerichtshof!« sagte Mr. Alderman. »Wir sollten nun logischerweise mit der Geschichte der Tschechoslowakei fortfahren. Aber wir müssen unsere Pläne ändern und von der streng logischen Reihenfolge abweichen. Jetzt ist vorgesehen, Ihnen einen Film zu zeigen.«
Mr. Dodd, einer der beiden amerikanischen Hauptankläger, meldete sich zu Wort. »Hoher Gerichtshof! Die Anklagebehörde für die Vereinigten Staaten wird nun mit der Erlaubnis des Gerichtshofs einen Originalfilm über die Konzentrationslager vorführen.«
Carl wußte, daß die Nazis Konzentrationslager errichtet hatten; er wußte nicht, wie viele es waren, und er wußte auch nicht, was dort wirklich geschehen war. Abe wußte mehr; er hatte zum Beispiel Statistiken gelesen, die dem Massenmord die Form von Zahlen gaben. Über nichts wurde in den Cafeterias, den Pressezentren und in den Gängen des Gerichtspalastes heftiger diskutiert und spekuliert als über die Tötungsfabriken der Nazis; wer das Äußerste vermutete und gar noch seine Vorstellungen davon ausbreitete, galt als Zyniker. Nach dieser Vorführung nicht mehr. Der Film war zusammengeschnitten aus Material, das amerikanische Soldaten bei der Befreiung verschiedener Konzentrationslager gedreht hatten; die schrecklichsten Teile aber stammten aus dem Privatbesitz hoher Nazifunktionäre, die treue Untergebene gefunden hatten, die für ihre Herrn die Kamera bedienten. Carl blickte von der Leinwand zu den Gesichtern der Angeklagten, zu der weißen Fläche seines Schreibblocks. Ribbentrop habe die Augen zugedrückt und sich von der Leinwand weggedreht, als die Halden von Schuhen, Kleidern, Prothesen, Brillen, Kinderpuppen und Haaren gezeigt wurden; Hans Frank, ehemals Hitlers Anwalt, später Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, im Gefängnis fromm geworden, habe die Schultern hängenlassen, wie wenn ihm der Herr Lehrer eine Schwindelei nachgewiesen hätte; Julius Streicher, der Hauptschriftleiter des Stürmer , blickte gelangweilt zur Decke, als auf der Leinwand die Türen zu den Gaskammern geöffnet wurden und man die Toten sehen konnte, die wie Basaltsäulen aufrecht aneinandergepreßt standen; Göring nahm den Kopfhörer ab, gähnte bei geschlossenem Mund, die Caterpillars, an deren Steuer vermummte amerikanische Soldaten saßen, schoben gerade Hunderte Leichen zusammen; Alfred Rosenberg zappelte auf seinem Sitz herum und sah immer wieder nach den anderen, um seine Miene auf die ihren einzustellen. Arthur Seyß-Inquart blickte geradeaus, an der Leinwand vorbei. Seine Augen hinter den starken Gläsern waren ohne Ausdruck.
Nach dem Film war der Gerichtstag beendet.
Am Abend besuchten Abe und Carl den Gefangenentrakt. Ihn interessiere nur Seyß-Inquart, sagte Carl.
»Ich muß aber mit jedem sprechen, das ist meine
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