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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Aufgabe. Kapierst du das nicht?« zischte Abe auf deutsch. »Besonders nach so einem Tag muß ich das tun. Und du bist mein Assistent, verdammt noch mal! Du mußt mitschreiben.«
    Sie wurden von vier Soldaten begleitet, einem Amerikaner, einem Briten, einem Franzosen und einem Russen. Jeder Posten hier schien vierfach besetzt zu sein. Dementsprechend viele Soldaten standen in den Gängen herum.
    »Geh du zu den anderen und laß mich allein mit ihm!« flüsterte Carl zurück. Abe hatte ihn gewarnt, von ihrem französischen Begleiter wisse er, daß er leidlich Deutsch verstehe.
    Abe war sehr aufgeregt. »Seyß-Inquart wird es nicht zulassen.«
    »Fragen wir ihn, ob er etwas dagegen hat.«
    Seyß-Inquart hatte nichts dagegen.
    Als er, erzählte Carl, den britischen und den russischen Soldaten im Rücken, in der schmalen Zelle dem Gefangenen gegenübersaß, sei ihm aber nicht eine Frage eingefallen, von der er sich eine Antwort von Belang erwartete. Seyß-Inquart habe nach einer Weile gesagt, er werte es als kein gutes Zeichen, daß am Ende dieses Tages keine Frage an ihn gestellt werde. Nun sei ihm, sagte Carl, erst recht nichts eingefallen, und er habe es sogar aufgegeben, über eine Frage nachzudenken. Er sei einfach dagesessen und habe gewartet. Seyß-Inquart sagte, so etwas wie am Nachmittag gehe an die Nieren, aber er halte durch, es wäre allerdings ein gewisser Trost, wenn Fragen gestellt würden. Aber Carl fiel eben keine Frage ein. In der Zelle roch es nach Mottenkugeln und nach Süßigkeiten. Der Mann, der für den Tod von Edith Stein verantwortlich war, saß ihm gegenüber, die Handflächen auf dem Tisch, als wäre ihm das befohlen worden. Er trug amerikanische Zivilkleidung, grauer Anzug mit feinen Streifen. Gürtel und Krawatte wurden ihm abgenommen, wenn er aus dem Gerichtssaal in seine Zelle zurückgeführt wurde. Es wäre ihm freigestanden, in seiner Uniform vor Gericht zu erscheinen, das hatte er abgelehnt. Die Augen hinter den dicken Gläsern wirkten basedowsch. Die Haare hatte er sich an Schläfen und Hinterkopf scheren lassen. Der Angeklagte mit dem höchsten IQ.
    Als die Zellentür in Carls Rücken aufgesperrt wurde, weil Dr. Abraham Fields seinen Assistenten abholen wollte, sagte der Gefangene doch noch etwas. Der Assistent schrieb mit:
    »Ein Sonderfall also. Ein Präzedenzfall also. Etwas, das es vorher nicht gegeben hat. Something that has not existed before. Das nun meinen Namen trägt. Morgen kann einer sagen: Ich bin so, wie Dr. Arthur Seyß-Inquart einer gewesen ist.«
    In der Nacht spazierten Abe und Carl wieder in die Felder hinaus. Sie hatten sich aus dem Häuschen geschlichen, ihr Wachsoldat sollte es nicht merken, sie wollten allein sein. Abe fragte Carl, wo er sich in den vergangenen Jahren herumgetrieben habe. Statt ihm zu antworten, erzählte Carl seinem Freund, daß er erst vor wenigen Wochen erfahren habe, daß seine Mutter bei einem amerikanischen Bombenangriff auf Wien gestorben sei.
    »Ich kann mich nicht erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit ich sie zum letztenmal gesehen habe.«
    »Erzähl mir von ihr«, sagte Abe.
    »Ich war ihm kein guter Freund gewesen«, keuchte Carl. Frau Mungenast hatte mir erklärt, daß die Schmerzen vom Rückgrat ausgingen und sich über den Rücken ausbreiteten und schließlich in die Beine und die Arme führen, so daß sich der Patient fühlte, als bestehe er nur aus Schmerz. »1952 bin ich nach New York gefahren, um mich mit Abe zu versöhnen, das heißt, ihn um Verzeihung zu bitten. Er hatte furchtbar viel zu tun, arbeitete in einem Wahlkomitee für die Demokraten, hatte eigentlich gar keine Zeit für mich, nahm sich aber alle Zeit. Hat er dir erzählt, daß wir nach Princeton gefahren sind? Und weiter nach Pennsylvania? Ich wollte in Bryn Mawr das Grab von Frau Professor Noether besuchen. Aber es gibt dort kein Grab. Sie hat sich einäschern lassen. Ihre Urne steht im Library Cloister des Colleges. Das wollte ich nicht – mich mit verschränkten Händen vor ein Regal stellen. Sind wir eben gleich wieder umgekehrt. Ein vergnüglicher Ausflug ist daraus geworden. Abe war auf seine Weise ein Genie. Er war ein Genie auf dem gleichen Gebiet, auf dem auch das Fräulein Stein eines war. In ihrem Fall sagt man nicht Genie, sondern Heilige. Genie und Heilige des Trostes.«
    Auf dem unteren Weg durch den Wald war es, genau wie ich gedacht hatte, um so viel leichter, den Rollstuhl zu schieben. Der Weg war nur wenig verschneit, weil sich über ihm die

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