Abendland
manchen Stellen versanken die Stiefel knöcheltief im Weichen, und wenn man sich auf die Absätze stellte, sanken sie noch tiefer ein. Das Mondlicht zeichnete die Silhouette der Hügel ringsum. Kein Weg war von hier aus zu sehen, kein Haus.
»Und daß ich mit ihm sprechen kann?« fragte Carl.
»Bist du verrückt! Völlig ausgeschlossen.«
»Mach es möglich!« bat Carl. »Behaupte einfach, von einem Journalisten sei nie die Rede gewesen. Ein Mißverständnis. Behaupte, ich sei ein aus Wien geflohener, sechzehnteljüdischer Psychologe.«
»Weißt du, was ein Rorschachtest ist?«
»Nein.«
»Schon durchgefallen, Jake. Ich werde dich zu Hause einem Rorschachtest unterziehen, dann weißt du es. Und deinen IQ werde ich auch messen.«
Abe machte es möglich. Nachdem Carl den Prozeß einige Tage lang von der Pressetribüne aus verfolgt hatte, stellte ihn Abe einem amerikanischen Oberst vor. Der schaute ihm gelangweilt in die Augen und nickte, und das war alles.
Dr. Jakob C. Candor nahm allerdings nur an einem einzigen Tag als Assistent von First Lieutenant Dr. Abraham Fields an der Verhandlung teil. Nach diesem Tag hatte er bereits genug. »Es war allerdings auch ein höchst bemerkenswerter Tag«, erzählte mir Abe. »Ein wahnsinniger Tag.«
5
An diesem Tag verhandelte das Gericht die Okkupation Österreichs durch die Hitlertruppen. Carl und Abe saßen an einem eigenen Tischchen – eine Aktentasche breit, zwei lang –, aber ihr Platz bot freien Blick zu der Bank mit den Angeklagten. Sie waren schließlich Psychologen und mußten das Mienenspiel der Angeklagten beobachten können. Abe trug Uniform, Carl eine Armbinde. Vor beiden lagen Block und Bleistift.
Die Anklage schilderte die Vorgehensweise Görings, er hatte »das Unternehmen Otto«, wie die Operation genannt wurde, geleitet. Die österreichischen Nazis, so der Plan, sollten Unruhen anzetteln, Straßenschlachten provozieren und so weiter, daraufhin sollte Bundeskanzler Seyß-Inquart von Berlin militärische Hilfe erbitten, damit Ruhe und Ordnung wiederhergestellt würden. Das Telegramm, das Seyß-Inquart an Hitler schicken sollte, diktierte ihm Göring von Berlin aus ins Telefon. Aber das Diktieren wurde dem Reichsmarschall zu langweilig, und in seiner Ungeduld rief er in den Hörer – der Vertreter der Anklage zitierte wörtlich, Göring hatte nämlich alle seine Telefonate und Gespräche stenographieren lassen: »Ach was, Seyß! Sie brauchen gar nichts zu schicken, ich habe das Telegramm ja vor mir. Sparen wir uns den Umweg!« – Ein knallender Lacher von der Anklagebank: Göring. – Die Anklage zitierte nun aus einem anderen Telefongespräch, nämlich jenem, das Göring am 13. März 1938, einen Tag nach der Okkupation, mit Ribbentrop geführt hatte. Er gab darin dem Außenminister des Deutschen Reiches, der gerade in London weilte, Anweisungen, wie er den Einmarsch in Österreich gegenüber den Engländern rechfertigen solle. – Und die Verlesung dieses Dokuments geriet zu einer wahnsinnigen Komödie.
Göring schien an diesem Prozeßtag besonders gut gelaunt zu sein, am Beginn der Sitzung hatte er mit angedeuteter Verbeugung und Handkuß eine amerikanische Journalistin gegrüßt, die er von früher her kannte. Als ihm mitgeteilt wurde, er solle das unterlassen, antwortete er, er wolle doch nicht glauben, daß es in der Kompetenz dieses Gerichtes liege, einem Mann die guten Manieren zu verbieten; und erntete damit eine Heiterkeit auf der Pressetribüne, die lange nicht abebbte, zumal er mit jener Journalistin einen clownesken Flirt aus Gesten und Blicken zu spinnen begann. Sogar der Chefankläger Mr. Jackson hatte geschmunzelt – was ihm Göring mit einem zugeworfenen Handkuß dankte und dafür abermals Gelächter erntete. Nun, als er im Kopfhörer seine damals an Ribbentrop gerichteten, erst ins Englische, anschließend von einem Dolmetscher ins Deutsche zurückübersetzten Worte hörte, platzte Göring heraus vor Lachen. Er hatte einen ansteckenden Lacher, und was vorgelesen wurde, war ja auch komisch. Doppelt komisch sogar – erstens einmal, weil die Übersetzung doch ziemlich plump war, zum anderen, weil die Art, wie Göring am Telefon über die Sache geredet hatte, in so eklatantem Widerspruch zum Ereignis, nämlich dem Überfall auf einen souveränen Staat, stand.
»Also, mein lieber Ribbentrop«, zitierte Mr. Sidney Alderman, der Vertreter der Anklage, aus dem Stenogramm, »kommen Sie so bald als möglich, ich freue mich schon auf Ihr
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