Abendland
aus?« fragte Carl. »Oder willst du mir nur etwas Liebes sagen? Daß ausgerechnet ich am Beginn deiner bewußten Wahrnehmung stehe? Wir waren oft in den Donauauen, wir vier und du. Wo ist dein Vater? Kommt er in deiner ersten Erinnerung nicht vor?«
Nein, er kommt nicht vor.
Eine andere Erinnerung an einen gemeinsamen Badenachmittag hat mehr Gewicht. Es war in dem Sommer gewesen, bevor ich in die Schule kam. Carl und Margarida wohnten bereits in Innsbruck, die Semesterferien aber verbrachten sie in Wien. In den ersten Jahren nützten sie jede Gelegenheit, um nach Wien zu fahren – Ostern, Pfingsten, Allerheiligen, Weihnachten natürlich. Margarida fand Innsbruck langweilig, sie tat sich schwer, dort Menschen kennenzulernen. Auch bei Carl dauerte es lange, bis er sich mit der Stadt anfreundete. Wenn sie in Wien waren, besuchten sie uns, und wir besuchten sie, sie luden uns zum Plachutta in der Wollzeile ein oder ins Sacher oder ins Bristol (das Imperial wollte meine Mutter nicht betreten). Oder meine Mutter kochte, was sie besser konnte als Margarida und, wie Carl sagte, besser als alle Haubenköche Wiens zusammen; an diesen Abenden saßen wir eng beieinander um unseren Küchentisch in der Penzingerstraße, ich zwischen Carl und Margarida; das war mir viel lieber als diese Restaurantbesuche, bei denen ich mein Sonntagsgewand anziehen mußte. Wann immer ich Lust dazu hatte, durfte ich am Rudolfsplatz übernachten. Am liebsten schlief ich in einem der kleinen Zimmer im Dachboden; weil ich mich aber auch ein wenig fürchtete, legte sich Margarida zu mir.
Als mir mein Vater diesmal mitteilte, daß Carl und Margarida nach Wien kommen, brach ich in Tränen aus und setzte mich auf den Küchenstuhl, weil mir die Knie schwach wurden und die Hände zu zittern begannen. In unserer Wohnung in der Penzingerstraße herrschten die berühmte Bedrücktheit und die berühmte Gekränktheit, diesmal despotischer als jemals zuvor. Mein Vater war bedrückt, weil er das Saufen nicht lassen konnte, meine Mutter war gekränkt, weil er das Saufen nicht lassen konnte, was wiederum meinen Vater kränkte, was wiederum meine Mutter bedrückte. Sie schafften es nicht, einander in die Augen zu blicken. Sie drehten sich zur Seite, wenn der andere die Küche betrat. Und schließlich bildete ich mir ein, sie brachten es nicht einmal mehr über sich, im selben Moment mich anzusehen. Als hielten sie die Aura nicht aus, in die mich der Blick des jeweils anderen hüllte. Ich fürchtete, meine Mutter könnte sich plötzlich umdrehen, mitten in sein Gesicht schauen und sagen: Georg, wir müssen darüber reden. Manchmal ging ein Ruck durch ihren Körper, ihr Mund wurde noch schmaler; ich habe schnell etwas gesagt, bin ihr ins Wort gefallen, noch bevor das Wort einen Ton gefunden hatte. Dieses Wir-müssen-darüber-reden-Georg würde nur eines bedeuten, davon war ich überzeugt, nämlich: Es ist Schluß, Georg. Es ist aus, Georg. Es ist vorbei, Georg. Ich geh. Die Gekränktheit und Bedrücktheit meiner Mutter konnte ich gut nachvollziehen; aber nicht verzeihen. Es war mir nicht gelungen, zu verhindern, daß mein Vater heimlich trank. Das verzieh ich mir nicht. Ich hatte es versucht. Ich hatte mit ihm gesprochen. Ich hatte gesagt: »Bitte, Papa, trink nicht soviel!« Ich hatte mich auf diesen Satz vorbereitet. Hatte mir ein Gesicht für diesen Satz eingeübt. Das Gesicht eines geschlagenen Kindes. Mein Verstand und mein Instinkt, die beide eins waren und deshalb so scharf, sagten mir, ein Erwachsener kann gegen so ein Gesicht nichts ausrichten; also wird er aufhören zu trinken. Aber er trank weiter. Wie sollte ich verhindern, daß sich meine Mutter umdrehte und ihrem Mann mitten ins Gesicht blickte? Obwohl ich mir doch genau das wünschte.
Wenn Carl bei uns war oder Margarida, vor allem aber, wenn sie uns gemeinsam besuchten, löste sich der Spuk schon in den Begrüßungsworten auf, und nichts, gar nichts blieb übrig. Unser Schutzengel lehnte sich gegen den Türpfosten, schob sich die bubenhaft blonden Haare aus der Stirn, lächelte auf seine ökonomische Art, duftete nach Seife und Rasierwasser und ein wenig nach Tabak, duftete gegen die Waschküche an, deren Tür sich nicht schließen ließ und aus der es nach Zement und Waschpulver und unserer schmutzigen Wäsche roch. Mein Vater sagte: »Essen wir etwas!« Er glaubte, wenn man nur äße, als wäre alles normal, würde alles normal werden. Ein Tisch hat vier Seiten, wenn Carl und Margarida uns
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