Abendland
in wenige Worte faßte – worin er ebenfalls meisterlich war –; aber ich hatte es nie vor seinen Augen getan; ich hatte mir die Wendungen gemerkt und sie später, wenn ich allein war, aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Ich hatte vor ihm nicht als sein Eckermann erscheinen wollen. Nun war ich sein Eckermann, und meine Aufgabe bestand unter anderem darin, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Diesen Satz stufte ich als wesentlich ein. Er hatte an der Universität Mathematik gelehrt, Logik verehrte er wie andere den lieben Gott; wenn er also nach reiflichem und, wie ich es verstehen mußte, bewegtem Nachdenken einen Begriff wie differenzieren gebrauchte, so durfte ich getrost davon ausgehen, daß er ihn nicht allein im umgangssprachlichen Sinn von trennen und unterscheiden verwandte … sondern? – Verhemmt waren wir an diesem ersten Abend, weiß Gott! Meine Güte! Beide. Und beiden war uns bewußt, wodurch diese Verhemmtheit ausgelöst wurde: Zum erstenmal wollte er etwas von mir. Ich sah ihm an, was er dachte: ob es wirklich ein kluger Entschluß gewesen war, mich zu bitten, über ihn zu schreiben. Und ich nehme an, er ahnte auch meine Zweifel, nämlich ob ich mir das zutraute, ob ich das auch wirklich wollte: sein Leben erzählen. Am Abend in meinem Zimmer oben unter dem Dach schrieb ich unter den Satz: Sinnesorgane sind veränderliche Größen, die in ihrem Wert von anderen Größen abhängig sind, und weil sich C.J.C. im Laufe seines Lebens mehr aufs Hören konzentriert hat als aufs Sehen, kann er mit dem Ohr mehr Feinheiten wahrnehmen als mit dem Auge. Der Witz dabei ist, daß er zwar nie eine Brille nötig gehabt hatte, wohl aber ein Hörgerät. – Der eigentliche Witz bestand freilich darin, daß ich wegen so eines simplen Satzes so harzige Gedanken in meinem Gehirn herumschob, nur weil diesem Satz eine längere Pause vorausgegangen und Carl dabei so melancholisch geschaut hatte, was wahrscheinlich auf nichts anderes als auf eine Absence zurückzuführen war. Mit meinen einundfünfzig Jahren war ich immer noch der übereifrige Adept und er mein Meister! (Manchmal allerdings war ich auch ein Ketzer gewesen. Aber das ist ja nur die Kehrseite der Medaille.) Ich ärgerte mich über mich selbst. Und am meisten ärgerte ich mich, weil ich ihn in meinem Kommentar C.J.C. nannte, als wäre er ein Wesen, dessen Name auszusprechen eine Sünde ist … – Ich merke, auch ein Jahr nach seinem Tod kann ich noch immer nicht über ihn sprechen, ohne mich zu empören; aber auch nicht ohne die Ehrfurcht, die ich stets vor ihm empfunden habe; und natürlich nicht – natürlich nicht! – ohne Liebe. Will ich warten, bis Ärger, Bewunderung und Liebe nüchterner Distanz weichen, werde ich wohl nie über C.J.C. schreiben können.
»Warten wir, bis Frau Mungenast fertig ist«, sagte er. »Mir wäre am liebsten, man würde überhaupt keine Musik hören in der Küche. Aber das darf man nicht verlangen. Man soll kein Tyrann sein. Alle sagen, Musik passe gut in eine Küche. Ich finde das nicht.«
6
Meine erste Erinnerung – weil mich Carl danach gefragt hat (und weil du, David, mir von deiner ersten Erinnerung erzählt hast):
Ein Familiennachmittag in den Donauauen – Vater, Mutter, Carl, Margarida, ich. Wir haben einen roten Sonnenschirm mit einer Metallspitze in die Wiese gerammt und darunter Decken ausgebreitet. Ein Korb wie eine Schatztruhe mit einem gewölbten Deckel steht da, in ihm sind die guten Sachen verstaut, Tomaten und Gurken zum Beispiel. Ich sehe Carl und meine Mutter im Wasser stehen, Carl bis zum Bund seiner Badehose, meine Mutter bis zu den Waden. Sie trägt einen weißen, einteiligen Badeanzug und drückt die Schultern nach hinten. Carl ruft mich zu sich. Ich laufe barfuß über die Wiese, tauche meine Füße ins Wasser. Meine Mutter hält mich an der einen Hand, Carl an der anderen. Carl will mir das Schwimmen beibringen. Er ruft: Laß dich fallen, Sebastian! Meine Mutter streift meine Hand von ihrem Finger. Das Wasser reicht mir nun bis zum Bauch. Ich lasse mich fallen. Carl fängt mich auf. Ich liege auf seinen Händen, sie breiten sich unter meinem Bauch und meiner Brust aus. Er trägt mich durch das Wasser, hebt mich hoch, senkt mich ab. Ruft: »Hui, hui! Hui, hui!« Dreht sich dabei im Kreis. Margarida kommt dazu. Ich habe keine Angst vor dem Wasser, aber ich strecke meine Hände nach ihr aus. Sie nimmt mich auf den Arm. Ich rieche Sonnenöl.
»So sieht deine erste Erinnerung
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