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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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er konnte. Dagegen hatte der Jazz ihm und seiner Familie nur Schaden zugefügt. Wenn er sich von ihm abwandte, waren sie beide quitt – er und der Jazz.«
    Er, Carl, hatte für meinen Vater getan, was er konnte, sogar noch mehr; mein Vater hatte ihm einen großen finanziellen Schaden zugefügt. Heute denke ich, daß ihn das Scheitern dieses unsinnigen Projekts – unsinnig, weil es von den denkbar ungeeignetsten Personen betrieben wurde – das einzige Mal in seiner Loyalität meinem Vater gegenüber hatte wankend werden lassen. Ohne vorher mit uns darüber zu sprechen, organisierte er diesen Job als Musiklehrer am Gymnasium in Feldkirch. Und es war nicht ein Vorschlag, den er meinem Vater unterbreitete, sondern eigentlich ein Befehl. Im Kamelhaarmantel saß er in der Küche, er zog ihn nicht aus, dazu trug er zweifarbige Schuhe, die mir fremd erschienen und wie ein Zeichen, daß er sich von uns abgewandt hatte. Meine Mutter schüttelte den Kopf, den ganzen Abend über schüttelte sie den Kopf, es war wie ein Zittern, und ihre Augen schwammen. Sie glaubte, mein Vater, der Lehrer, würde eine noch größere Bescherung abgeben als mein Vater, der Lokalbesitzer, und sie gab sich alle Mühe, die in ihr tobende Panik nicht nach außen dringen zu lassen. Und ich war auf ihrer Seite. – In den Schulferien 1965 packten wir zusammen und zogen nach Westen.
    Zwei Wohnungen standen zur Auswahl: eine mitten in Feldkirch, zwei Minuten zu Fuß zum Gymnasium, klein, nicht gerade billig, aber in der Stadt und mit Zentralheizung; und: ein Bauernhaus in dem Dorf Nofels, bestehend aus einer leergeräumten Scheune, einem leergeräumten, frisch verputzten und gekalkten Stall, vier engen Zimmern aus gemütlichem Holz, einer mächtig großen Küche, um deren Tisch bequem zwölf Leute Platz hatten, und einem Wohnzimmer. In letzterem, vom Vermieter »Stube« genannt, stand ein Kachelofen. Die Küche wurde mit dem Herd geheizt, der Rest des Hauses durch geöffnete Türen. Meine Mutter war für die Wohnung in der Stadt. Mein Vater nahm das Haus auf dem Dorf. Mir gefiel es in Nofels. Gleich am ersten Tag nach unserer Ankunft machte ich allein einen langen Spaziergang. Die Straßen konnte man blind und taub überqueren, so selten fuhr ein Auto. Hier war ein Fluß, den zu beiden Seiten Auwälder säumten. Der Fluß schäumte über gemauerte Stiegen in einen anderen Fluß. Das gefiel mir. Ich mußte nicht wissen, wie die Flüsse hießen. Ich hatte nicht vor, auch nur einen einzigen Menschen näher kennenzulernen. Ich liebte es, allein zu sein und spazierenzugehen. Für beides gab es in diesem Dorf viel Gelegenheit.
    Morgens um Viertel nach sieben stiegen mein Vater und ich in den Bus, der uns zur Schule brachte, mittags fuhren wir gemeinsam nach Hause. Wider alle Erwartungen fand mein Vater von Anfang an großen Gefallen an seiner neuen Arbeit. Er war glücklich, und darum war dies eine glückliche Zeit für unsere Familie. Meine Mutter bekam eine Stelle bei der Arbeiterkammer, und ihre Arbeit war ähnlich wie in Wien beim ÖGB. Was das genau war, wußte ich wieder nicht. Ich habe sie nie so oft lachen sehen wie damals. Sie richtete sich her, sah jünger aus, trug bisweilen eine lindgrüne schulterfreie Bluse, die so eng anlag, daß sich der BH-Verschluß am Rücken abzeichnete, und in der sie auf mich wirkte, als wäre sie schon einmal auf Hawaii gewesen, dazu einen gerüschten steifen Rock und hohe Stöckelschuhe. Die steckte sie in ihre Handtasche, wenn sie mit meinem Vater manchmal abends den langen Weg zu Fuß in die Stadt ging. Unter dem Churer Tor zog sie sie an. Sie spazierten die Marktstraße hinauf und durch den Gymnasiumshof und über die Neustadt hinunter zum Dom und beim Katzenturm wieder in die Marktstraße, wo sie im Gasthaus Lingg, dem besten am Ort, ein Entrecôte Café de Paris aßen und wo es nicht selten vorkam, daß jemand an ihren Tisch trat und zu meinem Vater sagte, der Sohn oder die Tochter sei begeistert von seinem Musikunterricht.
    Mein Vater nahm seine Arbeit sehr ernst, euphorisch ernst. Er war der einzige Musiklehrer an der Schule, und er unterrichtete alle Klassen. Bei den Schülern war er bereits nach wenigen Wochen beliebt wie kein anderer Lehrer. Er spielte ihnen auf der Gitarre vor oder auf dem Klavier, erzählte ihnen so spannend vom Zusammenwirken der Klänge, als wär’s ein Spiel mit Detektiven, Banditen und Leichen. Er sprach über die Beatles, verkündete, daß die Band, als er selbst in den Staaten

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