Abendland
gereicht hätte.
Und eines Nachmittags stand Martin Rottmeier vor unserem Haus …
3
Alles hat etwas zu bedeuten, soviel wußte ich; aber ich verstand nicht bei allem, was es bedeutete. Was zum Beispiel hatte das Spucken zu bedeuten, dieses feine Spucken, fast ohne Speichel, das mehr ein Wegblasen eines Krümels oder einer Wimper von den Lippen war? Was hatte es zu bedeuten, daß er sich umdrehte und ohne weitere Anweisungen an mich ging? Hieß das, ich solle ihm folgen? Oder mich in den nächsten Tagen bei ihm melden? Oder warten, bis er sich bei mir meldete? Er hatte einen wiegenden Gang, als würde er alten Swingnummern lauschen; aber er kannte keine alten Swingnummern. Seine Hände steckten in den Taschen seines Lumberjacks, der die Farbe verdreckten Efeus hatte; sein Nacken bewegte sich im selben Rhythmus vor und zurück wie seine Hüften hin und her. Die blonden, fettigen Haare ließen sich nur schwer bändigen, einige Locken sprangen aus der Frisur und wippten synkopisch zur Bewegung des Kopfes und des Körpers. Ich fürchtete mich vor diesem Burschen; aber ich blickte ihm gern nach – wie er unter dem hohen, blassen Frühsommerhimmel dahinschritt, an unserem zusammengenagelten Bretterzaun entlang, über den Asphalt, dessen Staub noch vom Gewitterregen der Nacht schraffiert war. Als wäre alles Irdische auf ihn abgestimmt, auf ihn, der unbeeindruckbar war wie die Dinge, an die er anstreifte. Der in mir das ärgerliche Bedürfnis erzeugte, mich für ihn zu schämen. Dem jedes Nachdenken über sich selbst wider die Natur zu gehen schien. Der elend war, sich aber nicht elend machte. Der Motoren und Regenrinnen reparierte, ohne sich um den Nutzen oder die Benutzer zu scheren. Der sich über die Wunden, die ihm geschlagen wurden, mehr freute als die, die sie ihm schlugen. Wir anderen, wir bemühten uns und waren erfolgreich; er würde immer ohne Widerhall sein, aber auch ohne Beschwer. Wenn man auf seinen Rücken blickte, war es, als würde er aus dem Land gehen; wenn er auf einen zukam, war es, als hätte er einen weiten Weg hinter sich. Und ich dachte, er wird mir vielleicht das Leben ruinieren, aber er wird wunderbar in meine Band passen, er wird meiner Band erst das richtige Image geben: Hier wird nicht gute, hier wird gefährliche Musik gemacht, eine Musik, die sogar der verrückte Herr Lukasser nicht tolerieren will.
Ich wollte keine Verantwortung für unsere Familie mehr tragen, wollte nicht mehr voraus- und schon gar nicht mehr zurückblicken. Wollte mich in Zukunft um nichts mehr scheißen und mich bloß noch in dem Revier herumtreiben, das von dem brutalen Gitarrenriff in I Can’t Get No Satisfaction , dem polternd abstürzenden Baß in 19th Nervous Breakdown und der unerhörten Stimme von Mick Jagger ausgesteckt worden war. Ich wollte mies sein dürfen. Under my thumb / The girl who once had me down / Under my thumb / The girl who once pushed me around // It’s down to me / The difference in the clothes she wears / Down to me, the change has come / She’s under my thumb. Wenigstens ein bißchen mies. Die Beatles sollte mein Vater bekommen, die Rolling Stones waren für mich. Ich hatte mich gegen die Klischees meiner Generation gestemmt, ohne Applaus, von welcher Seite auch immer; jetzt wollte ich loslassen und einsinken in diesen süßen Brei aus Rebellion und Unterwerfung, Verweigerung und Hosenmode. Was mich einzig dabei störte, war, daß ich wußte, es handelte sich um einen süßen Brei. Seit ich einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich in unserer Familie der ruhige Pol gewesen, der Flageolettpunkt, der Beschwichtiger, der Schiedsrichter, der Versöhner, der Launenglätter, der Vermittler-Aufrüttler-Aufheiterer-Aufheller, der Ernüchterer, der Mutmacher, der Friedenstifter, der Lober, der Anti-Schwarzseher, der Ruhegeber und Ruhehalter, der Sich-Freuende, wenn Freude erwartet wurde, der Tröster, wenn Trost erwartet wurde, der die Zähne zusammenbiß, wenn erwartet wurde, daß einer die Zähne zusammenbeißt –; ich war allein gelassen in allem; stets war ich einer Sorge ausgeliefert, die sich nicht bändigen ließ. Ich wunderte mich, woher ich in diesen Jahren die Kraft und die Zuversicht genommen hatte und dazu den Glauben, das habe alles einen Sinn.
Von weit her war eine Kreissäge zu hören – wenn sie ins Holz schnitt, kreischte sie kurz auf und hielt gleich wieder konstant und verläßlich ihren Ton, als wollte sie allen anderen Geräuschen im weiten Umkreis Gelegenheit geben,
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