Abendland
zweihundert Jahren aufführte. Für gute zeitgenössische Musik schien sich niemand mehr zu interessieren. Aus diesem Grund war es meinem Vater ja so leicht gefallen, nach Amerika zu fahren – natürlich, um seine Karriere voranzutreiben, aber, wie er betont hatte, vor allem, um dort »das Notwendige für unsere Auswanderung vorzubereiten«. Als ich das Telegramm, in dem er uns die Ankunftszeit seines Flugzeugs mitteilte, auf dem Küchentisch liegen sah, war mir, als ertönten die Fanfaren, die bekanntgaben, wer als nächster das Gelobte Land betreten durfte. Auch meine Mutter stellte sich auf ein neues Leben ein. In den Tagen bis zur Ankunft meines Vaters wirkte sie feierlich, machte sich schön, legte Parfüm auf, auch wenn sie die Wohnung gar nicht verließ. Und dann war er da, und Auswandern war kein Thema mehr, nur seine Mission galt. Er, der sich nie um anderer Leute Geschmack gekümmert hatte, meinte nun auf einmal, den Menschen das Gute zurückbringen zu müssen. Er wollte in Wien einen eigenen Jazzclub eröffnen. Als meine Mutter und ich ihn in Schwechat am Flugplatz abholten – wir hatten, abgesehen von dem Telegramm, neun Monate lang nichts von ihm gehört! –, war sein erster vollständiger Satz: »Ich glaube, der Name Hot Club Vienna ist doch am besten.« Noch in der Ankunftshalle begann er, uns zu erklären, was er vorhatte, wobei er hauptsächlich auf Details einging – die indirekte Beleuchtung der Stufen, die zur Bühne führen sollten, oder das Mobiliar in der Künstlergarderobe oder die Beleuchtung des Clubs durch kleine Scheinwerfer, die an der Wand entlang zur Decke gerichtet werden sollten, wie er es in einem Club in Cincinnati gesehen habe, oder die künstlerische Gestaltung der Mitgliedskarten. Die Augen meiner Mutter wurden schmal und blieben so. Ich aber fühlte mich genötigt zu sagen, ich fände einen Jazzclub keine so tolle Idee. Er erhob die Stimme, so daß es alle im Bus vom Flughafen in die Stadt hören konnten: »Ich darf nichts trinken. Gut, ich habe nichts getrunken. Ich war mit Rauschgiftsüchtigen und Säufern zusammen, Tag und Nacht, aber ich habe nichts getrunken. Was darf ich weiter nicht? Nur, damit ich es von Anfang an weiß.« Ich sagte nichts mehr, saß auf dem Fensterplatz, mein bemerkenswertestes Sportheft unter dem Arm, das hatte ich ihm zeigen wollen, nur amerikanische Leichtathleten waren darin eingeklebt. Und meine Mutter sagte auch nichts. Ich schämte mich. Ich hatte ihn nicht einmal ausreden lassen. Hatte ihm nicht eine einzige Frage gestellt. Hätte seine Begeisterung doch ebensogut als Freude, wieder zu Hause zu sein, deuten können; hätte ihn erst von seinem großen Jahr in den Vereinigten Staaten von Amerika erzählen lassen sollen; hätte bedenken müssen, daß er – wie so oft so vieles andere – auch das mit dem Jazzclub wahrscheinlich gar nicht so ernst meinte.
Aber er meinte es ernst. Und er fand auch einen Kompagnon – Arnold J. Reiter, den fröhlich ängstlichen Unglücksraben. Die beiden im Gespann waren eine Garantie für jedes Mißlingen. Nun wäre es tatsächlich notwendig gewesen, meine Bedenken einzubringen. Aber nun tat ich es nicht. Aus schlechtem Gewissen, weil ich glaubte, meinem Vater die Heimkehr verdorben zu haben, sagte ich zu allem, was mit Hot Club Vienna zu tun hatte: »Das ist eine tolle Idee.« Und ich konnte mich nicht darauf hinausreden, daß er ohnehin nicht auf mich gehört hätte. Das hätte er wahrscheinlich. Er hatte meine Meinung immer ernst genommen. Schon als ich zehn war, hatte er mit mir gesprochen wie mit einem klügeren Bruder. Wenn überhaupt, hätte er sich nur von mir etwas sagen lassen. »Glaubst du inzwischen wirklich, daß es eine tolle Idee ist?« fragte er. »Es ist eine tolle Idee«, antwortete ich, und weil ich ja wußte, daß er, wann immer er selbst Zweifel an einer Sache hatte, sie damit vertrieb, indem er Wortwiederholungsschleifen knüpfte, sagte ich: »Es ist eine tolle Idee, ja, es ist eine tolle Idee, es ist wirklich eine tolle Idee, ja, ich denke, es ist eine tolle Idee, doch, es ist eine tolle Idee.« Er zog ein Gesicht, als wollte er sagen: Das kommt von dir, nicht von mir, ich verhalte mich in dieser Frage neutral wie die Schweiz, aber ich bin stolz, daß ich einen Sohn habe, der logisch denken kann. Und klemmte meine Wange zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und streichelte über den Wulst.
Arnold J. Reiter war Schallplattenproduzent und Besitzer eines Aufnahmestudios. Das J stand für
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