Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
gewesen sei, sieben Plätze unter den ersten zehn in der amerikanischen Hitparade belegt hätte und daß er und Chet einige Nummern von ihnen für Trompete und Gitarre arrangiert hätten; er setzte sich ins Gegenteil der meisten Schülereltern, indem er nicht nur zugestand, dies sei Musik, sondern sogar behauptete, dies sei unvergleichlich schöne Musik, »geniale Musik«, »unfaßbar geniale Musik«, »unglaublich unfaßbar geniale Musik«, »nicht kleiner als Schubert oder Johann Strauß oder Duke Ellington oder Charlie Parker«. Er versicherte seinen Schülern, diese Musik sei allein für sie komponiert worden. Er besorgte auf eigene Kosten einen Plattenspieler und kaufte stoßweise Singles: A Hard Day’s Night , I Want To Hold Your Hand , She Loves You , All My Loving , I Feel Fine , Eight Days A Week … Man hörte seine Begeisterung durch das Schulgebäude dröhnen, vom Physiksaal im Erdgeschoß bis hinauf zum Zeichensaal. Er gab Gitarrestunden für ein Drittel des Honorars, das ihm in Wien geboten worden war, die Schüler rannten uns die Scheune ein; er notierte die Akkorde sämtlicher Beatles-Songs, klopfte sie auf Matrize, vervielfältigte sie und verteilte sie in der großen Pause im Schulhof.
    Er gründete einen Chor. Von Anfang an gab er sich nicht mit Leichtem ab. Er studierte mit den Burschen und Mädchen in stundenlangen Proben Jazzstandards ein – wie I Got Rhythm von George und Ira Gershwin oder Georgia On My Mind von Hoagy Carmichael; Beatles-Songs gehörten zum Repertoire und – Vorarlberger Volkslieder. Er konnte kein Wort im Vorarlberger Dialekt sprechen, verstand nur wenig, bemühte sich auch nicht darum. »Zusammen mit Musik wird jeder Text zu bla-bla oder yeah-yeah, es ist sogar ein Vorteil, wenn man nicht versteht, was gesungen wird«, war seine Meinung. Er verwandelte biedere Volksweisen in aufreizende Nummern. Meine Mutter sagte, dies sei die schönste Musik, die sie in ihrem Leben gehört habe. Der eine oder andere Schülervater, die eine oder andere Schülermutter fragten, ob sie im Chor mitsingen dürften. Mein Vater nahm jeden auf, der mitmachen wollte, er fragte nicht nach musikalischen Qualitäten welcher Art auch immer; ihn interessierte die Verschiedenheit von Stimmen und nicht ihr Belcanto. Er war glücklich. Geprobt wurde in unserer Scheune. Auf der Gitarre spielte er nur noch selten.
    Ich sang übrigens nicht in seinem Chor mit. Was ihm, denke ich, sogar lieber war. Ich wollte Musik machen wie die Beatles, aber ich wollte nicht mithelfen, fünf- bis sechsstimmig nachzusingen, was sie zwei- bis dreistimmig vorgesungen hatten. Zu meinem sechzehnten Geburtstag schenkte mir mein Vater einen Verstärker und eine elektrische Gitarre – eine gebrauchte, die er günstig von einem Wiener Freund erstanden hatte. (Fender Telecaster, Baujahr 58. Heutiger Sammlerpreis: etwa die Größenordnung eines Mittelklassewagens. Ich besitze sie selbstverständlich immer noch.) Mein Vater habe sich von der Gitarre verabschiedet, urteilte Carl, er habe sozusagen die Verantwortung für dieses Instrument an mich, seinen Sohn, weitergegeben. Bestimmt neigte Carl nicht zu Archaisierungen, und ich neige ebenfalls nicht dazu – in diesem Fall, denke ich, trifft sein Urteil zu. Seit meiner Kindheit hatte ich auf Gitarren und ähnlichen Gebilden herumgeklimpert. Auf der Ukulele war ich nicht schlecht gewesen. Aber Ukulele geht einem bald auf die Nerven, und sie gibt wenig her, weder was den Klang betrifft noch in bezug auf das Ansehen, das sie einem in der Welt verschafft. Auch auf der Mandoline habe ich mich durchaus mit Erfolg versucht, ebenso auf dem sechssaitigen Banjo (den Klang dieses Instruments haßte meine Mutter, ich kann es ihr nicht verdenken). Später hatte ich auf den Gitarren meines Vaters gespielt. Wir waren oft in unserer Küche in der Penzingerstraße gesessen, und ich hatte ihn begleitet, indem ich im Django-Rhythmus drei verminderte Septakkorde hinauf- und hinunterrutschte, während er seine Soli dazwischensetzte. Ich sei eine Rhythmusmaschine, jubelte er. Er hat mich auch zu eigenen Kompositionen animiert, und manchmal habe ich den Part der Lead-Gitarre übernommen, und er, »einer der besten Gitarristen der Welt«, ist mein dienender Begleiter gewesen. Nun, die bissige, bockige Telecaster am Riemen, stellte auch ich eine Band zusammen, und es gab keinen Beat-Gitarristen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern, der, wäre er auf meiner Schulter gesessen, mir auch nur bis zum Kinn

Weitere Kostenlose Bücher