Abendland
seinen Kopf und durch sein Herz. Nicht nur mir gegenüber hatte er ein schlechtes Gewissen, vor allem seiner Musik gegenüber. Im magischen Weltbild meines Vaters anthropomorphisierte sich jedes Ding, wenn er erst eine Weile damit Umgang gehabt hatte, jedes Ding, jede Idee, jede Gewohnheit. Er ging einen bestimmten Weg, nahm eine bestimmte Straßenbahn, kehrte in einem bestimmten Kaffeehaus ein, trug Schuhe, Hosen, Jacken, Hemden bis zu ihrem Zerfall – warum? Weil bei einem Wechsel der Weg, die Straßenbahn, das Kaffeehaus, die Schuhe, die Hose, die Jacke, das Hemd gekränkt sein könnten. Er hatte schon einmal musikalischen Verrat begangen, nämlich an der Schrammelmusik seines Vaters; das hatte ihm lange zu schaffen gemacht. Und nun, das spürte er, kündigte sich ein neuer Verrat in ihm an: am Jazz. Er erzählte uns von so vielen Musikern, denen er in New York und auch während der Tournee mit Chet Baker begegnet war, mit denen er gesprochen, mit denen er gespielt, die er gehört hatte, deren Eigenarten nachzuahmen er auf der Gitarre versucht hatte, ob es sich um Joe Pass, den Zauberer auf der Gitarre, oder um Spieler auf anderen Feldern wie die verschollene Bluessängerin Memphis Minnie, die jeden Ton am Ende umstülpte, oder den Schlagzeuger Art Blakey oder um Thelonius Monk handelte.
Carl: »Er war enttäuscht von denen allen. Tief in seinem Herzen war er enttäuscht, daß er mit ihnen mithalten konnte. Er hatte erwartet, daß sie größer wären. Daß sie für ihn unerreichbar wären. Nun konnte er nicht nur mithalten mit ihnen, vielleicht war er sogar besser. Es war so, wie ich es ihm von allem Anfang an gesagt hatte. Nun hatte er es erlebt: Er gehörte zu den Besten. Damit hatte diese Musik für ihn jedes Hoffen und Bangen verloren. Sie bot nicht einmal Anlaß für seine Eifersucht. Sie ließ keinen Platz für den Traum. Dein Vater zählte sich nicht zu jenen Glücklichen, denen sich ein Traum erfüllt. Ergo: Wenn sich doch einer erfüllte, dann war er es nicht wert gewesen, geträumt zu werden.«
Aber wie sollte er es seinen Freunden – Phillip Mayer, Adi Kochol, Edwin Niedermeyer, Hans Koller, Art Farmer, Jacques Trutz, dem Pianisten aus der ersten Zeit –, die ihm ja alle durch die Bank seinen Erfolg gönnten, wie sollte er es uns, seiner Frau und seinem Sohn, die wir so lange von ihm getrennt waren, wie sollte er es Carl, seinem Förderer und obersten Anhimmler, erklären, daß ihn, der gerade von einer Tournee mit Chet Baker, dessen Name »in Fachkreisen« nur mit Ehrfurcht ausgesprochen wurde, zurückkam, nun diese Musik langweilte? Um vor den Mächten, die ihn umschwirrten und bedrängten, zu verbergen, daß er nun schon wieder im Begriff war, ihr Geschenk zurückzuweisen, nämlich sein Talent, auferlegte er sich eine Mission: Zum zweitenmal sollte dieser Stadt der Jazz gebracht werden. Was beim erstenmal die 5. Armee der Vereinigten Staaten von Amerika nur für die Zeit ihrer Anwesenheit zustande gebracht hatte, sollte nun ein kleiner Mann mit Kraushaar und Bartschatten, ein ehemaliger Schrammelcontragitarrist aus Hernals, für immer hier verfestigen. – Die Sache ging schlecht aus. Nach einem Jahr war der Club bankrott. Mein Vater nahm die Meldung entgegen wie die Radionachrichten über einen Wechsel an der Spitze des Europarates in Straßburg. Arnold lehnte an unserem Kühlschrank und schluchzte. Mein Vater saß mit verschränkten Armen auf dem Sessel, hatte die Beine von sich gestreckt und sagte nichts. Ein wenig ungeduldig war er; als warte er, bis Arnold endlich mit seiner (!) Sache fertig sei, damit man sich wieder anderem zuwenden könne, das es wert war, daß man sich ihm zuwandte. Ich hatte mit Schreierei und einer Explosion aus Selbstvorwürfen und Beschuldigungen gerechnet, mit Umbringenwollen und Drohungen, sich die Griffhand in den Scharnieren der Küchentür zu brechen (war eine Zeitlang seine Lieblingsmethode gewesen, alle zum Schweigen zu bringen). Mit dieser Kaltblütigkeit nun konnte ich nicht umgehen. Meine Mutter ebenfalls nicht. Sie schien uns gefährlicher als alle seine bekannten Verrücktheiten zusammen. Meine Mutter lief hinüber zum Lammel und telefonierte mit Carl. Margarida und er kamen gleich am nächsten Tag mit dem Zug aus Innsbruck. Auch ihnen war die Ruhe meines Vaters unheimlich.
Carl: »Erst später wurde mir klar, daß sich Georg nichts anderes gewünscht hatte, als daß dieses Projekt scheitere. Nun war er reingewaschen. Er hatte für den Jazz getan, was
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