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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verdreckt und durchnäßt waren und ich zwei Tage aufwenden mußte, um sie wieder in Ordnung zu bringen.
    Eines Abends spazierte ich die Bleeker Street hinunter Richtung East Village und kam bei Matt Union vorbei, dem Gitarrengeschäft, von dem mir mein Vater erzählt hatte. Ich trat ein und fragte einen der Verkäufer, ob er einen Gitarristen namens George Lukasser kenne, und er kannte ihn – ja, er kannte meinen Vater! –, und ich sagte, ich sei der Sohn von George Lukasser, worauf er mir die Hand über den Ladentisch reichte. Ich fragte, ob er vielleicht jemanden wisse, der einen Gitarristen suche, ich sei nämlich auch ein Gitarrist. Er nickte und gab mir die Adresse eines Clubs ein paar Blocks weiter am Broadway. Es war eine schwarz ausgemalte Fabrikhalle ohne jedes Mobiliar, ein Dutzend Gitarristen wartete bereits; wir wurden durch einen finsteren langen Gang geführt, in dem es nach verdorbenem Essen und nach durchwühlten Müllcontainern roch. Man stellte mir eine Les Paul zur Verfügung, und ich improvisierte zu Strange Brew von Cream. Der Manager zeigte sich davon angetan und lud mich zu einer Session mit noch vier anderen Gitarristen ein. Das Publikum war dünn und bestand wohl zur Hauptsache aus Freunden der Akteure und den »Pennern von der Bowery« – wie ein magerer Bursche von der »Waterkant« bei Bremerhaven meinte, der aus dem gleichen Grund hier war wie ich (nur daß er nicht halb so gut spielen konnte). Anstatt Geld zu bekommen, wie ich erwartet hatte, mußten wir dafür zahlen, daß wir spielen durften, und ich verlor in zwei Stunden, was ich an einem Tag als Autowäscher verdient hatte. Der Bremerhavener hieß Carlo Poell, eine Zeitlang trafen wir uns und langweilten uns miteinander und hockten im Central Park herum, mit Vorliebe oben beim Reservoir; er sagte, er könne sich vorstellen zu klauen, Handtaschen oder Jacken, die neben ihren Besitzern auf der Bank liegen, vorbeirennen, an sich reißen, weiterrennen. »Du kannst es dir vorstellen?« sagte ich. »Ja«, sagte er, »kann ich mir, aber tun tu ich es nicht.« Und wie er das in seinem absolut geheimnisfreien nordischen Akzent sagte, mußte ich lange darüber lachen.
    Ich half am Hudson Pier, vier Tage lang für insgesamt hundert Dollar, Kisten mit gestanzten Metallteilen, deren Funktion ich nicht erriet, aus Lastern auf Paletten umzuladen; schon nach zwei Stunden konnte ich an dieser Arbeit aber auch gar nichts Romantisches mehr entdecken; und in der ersten Nacht drehte ich mich unter Schmerzen zur Wand, um Mr. St. Paul wenigstens nicht vor mir zu haben, wenn er schon keine Ruhe gab, und war mir sicher, daß ich mir einen Kreuzschaden fürs Leben zugezogen hatte. Auch der Hochfrühling mit seinem Schaumbad an Blüten im Central Park vermochte es nicht, mich und die Stadt, die wir uns doch, als Abe unser Brautwerber gewesen war, so sehr geliebt hatten, wieder einander näherzubringen.
    Für fünf Dollar trug ich eines Tages Kartons mit aus der Mode gekommenen Kleidern und Hosen von einer Boutique an der Avenue of the Americas Ecke 10. Straße zu einem katholischen Sammelplatz für Altkleider in einem pseudoklassizistischen Kasten an der 14. Straße, Ecke Broadway, also gerade etwa zweihundert Meter weit, und dort wurde ich von einer Schwester in hellblau-dunkelblauer Tracht gefragt, ob ich für vier Dollar in der Stunde an den Waschmaschinen aushelfen möchte, was ich fünf Wochen lang tat, bis ich irgendwann nachts auf dem Heimweg mitten im Washington Square Park stehenblieb und in den Himmel blickte, wo tatsächlich Sterne zu sehen waren, und mich die Frage anfiel, ob ich mein Leben mit solchem unbedarften Quatsch vertrödeln wolle, nur um mich wie ein von John Dos Passos erfundener Held zu fühlen …
    Schließlich hatte ich meiner Schüchternheit keine Chance mehr gelassen und an der Rezeption meiner jämmerlichen Bleibe, die nicht einmal einen Namen hatte und in der ich und Mr. St. Paul inzwischen die längstdienenden Gäste waren, Maybelle Houstons Nummer gewählt, die sie mir bei der Streetworker-Party in Perlschrift unter ihren Namen in mein Notizbuch geschrieben hatte.
2
    Maybelle arbeitete inzwischen nicht mehr in der Rehabilitation. Und auch mit dem Boxsport wollte sie nichts mehr zu tun haben. Die Trainingstermine verwaltete ihre Tochter Becky, für die Buchhaltung bezahlte ihr Schwiegersohn einen Steuerberater aus Williamsburg, denselben, der sich auch um die monetären Angelegenheiten der Streetworkerorganisation kümmerte.

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