Abendland
betrachtet, die Insel wie einen Riesenfriedhof aussehen ließen, an dessen südlichem Ende die Twin Towers wie die Türme der Friedhofskapelle in den weißen Himmel ragten; die im Dunst sich auflösenden Schneisen der Avenues; der Grand Central Terminal mit seinen five-o’clock-pm-Menschenmassen in young, urban and professional Anthrazit, einige mit winzigen Rucksäckchen zwischen den Schulterblättern; selbst das Chrysler Building, der hybrideste Finger – alles verwandelte sich vor mir in ein Gleichnis von Sinn- und Freudlosigkeit, Verlust und Schuld. Ich wohnte wieder im Hotel Tudor in der 42. Straße Ost. Inzwischen war es noch teurer geworden. Nach einer Woche zog ich aus. Da hatte diese gierige leise Vornehmheit bereits ein beängstigendes Loch in mein Budget gerissen. Ich schlug mir an den Kopf, was für ein Idiot ich denn sei; ich, der von allen nüchternen Fähigkeiten die der Regelung meines Lebensunterhalts am besten zu beherrschen glaubte! Ich hatte alle meine Ersparnisse in kleinen amerikanischen Scheinen aus Europa mitgebracht, trug das Geld Tag und Nacht in einer Ledermappe um den Hals, hatte bereits einen Ausschlag auf der Brust; nun meinte ich am Gewicht zu spüren, wie ich ärmer wurde. Als ein Anfall von Irrsinn kam es mir vor, daß ich bis vor wenigen Tagen noch wie ein melancholischer Millionär in der Gourmet Deli Salad Bar mein Abendmahl eingenommen hatte, und das nur aus »Gewohnheit«, weil Abe und ich dort öfter gewesen waren – allerdings auf seine Rechnung.
Ich zog nach Greenwich Village in ein Studentenhotel in der Bleeker Street, nicht weit vom Washington Square. In der Eingangshalle standen ausgebaute Autositze um Holzkisten herum, eine steile Treppe führte nach oben, die war blutrot lackiert und höchstens einen Meter breit, es roch nach Aschenbecher und ungelüfteten Betten und nach einem Gemisch aus Bohnerwachs und Pisse. Ich teilte mir ein Zimmer mit einem Kanadier, der ein Stück über Fünfzig war und sich Peter St. Paul nannte und dem ein strohtrockener grauer Zopf bis zum Gürtel hing und der eine Art Ziehharmonika besaß, auf der er sich begleitete, wenn er bis spät in die Nacht hinein Gedichte von William Blake und Emily Dickinson und William Carlos Williams rezitierte (von ersterem hatte ich bis dahin eine Handvoll Gedichte gekannt, die Dickinson kannte ich nur dem Namen nach, letzteren gar nicht; ich besorgte mir von den dreien je ein Penguin Taschenbuch in jener Buchhandlung in der Lafayette Street, wo man, wenn man Glück hatte, Arthur Miller, William S. Burroughs oder Woody Allen treffen konnte). Peter St. Paul behauptete von sich, er sei Student der Anthropologie – ein Witz, den ich lange nicht kapiert habe. Mein Anteil an der Miete betrug zwar nur einen Bruchteil dessen, was ich im Tudor für mein Zimmer hingelegt hatte, aber auch wenn ich mich ausschließlich von koreanischem Street-Food ernähren würde, war leicht auszurechnen, wann ich gerade noch über genügend Dollars verfügte, um mir ein Flugticket zurück nach Hause zu kaufen. Der Mann an der Rezeption riet mir, meine Sachen irgendwoanders unterzustellen, er könne keine Verantwortung übernehmen, wenn etwas geklaut würde, und geklaut würde hier wie in der Garderobe der Hölle unten. Also schleppte ich meinen Koffer in die U-Bahn und fuhr hinauf bis zum Grand Central und stellte ihn dort in ein Schließfach; was natürlich eine Schnapsidee war, weil ich immer, wenn ich mir etwas Frisches anziehen wollte, durch halb Manhattan fahren mußte. Erst nach ein paar Wochen kam ich dahinter, daß die Penn Station wenigstens acht Straßen näher lag, aber da hatte ich mich längst auf zwei Garnituren eingestellt. Meine schmutzigen Kleider wusch ich – wie ich es bei anderen gesehen hatte – mit Haarshampoo an einem Trinkwasserbrunnen im Washington Square Park und hängte sie über einen Lorbeerstrauch zum Trocknen und setzte mich daneben auf eine Bank und las One Hundred Years of Solitude von Gabriel García Márquez, das Buch hatte mir Peter St. Paul geborgt (wofür ich ihm heute noch dankbar bin).
Ich sprach Leute auf der Straße an, fragte sie nach Arbeit. Einmal fegte ich in einer Autowerkstatt in der Nähe meines Hotels für acht Dollar den Hof aus; dort bekam ich auch den Tip, oben an der Eastside, in der Nähe der Queensboro Bridge (ja dort, wo Abe gewohnt hatte), könne man sich mit Autowaschen ein gutes Geld verdienen – stimmte auch, hatte aber den Nachteil, daß meine Kleider hinterher
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