Abendland
Händedruck, und wenn ich sie umarmte, spürte ich die beiden Muskelstränge in ihrem Rücken. Sechs Jahre zuvor hatte mich Abe, als wir die Busgarage an der Esplanade in Brooklyn Heights betraten, wo die Streetworker-Party stattfand (Abe: »Der Besitzer hat eine Tochter, die von unseren Leuten von der Straße geholt worden ist. Als Dank stellt er uns einmal im Jahr die Garage zur Verfügung und bezahlt das Bankett«), am Ärmel gepackt und hinter sich hergezogen, am Bierausschank und den Grillplatten vorbei, zwischen Männern und Frauen hindurch, die fast alle schwarz waren und sich über die Stehtischchen beugten, die an den parkenden Bussen entlang aufgestellt waren, und als ich schon meinte, jetzt sei er übergeschnappt, hielt er vor einer Frau in einem schimmerndroten, schenkelkurzen Samtkleid, legte meine Hand in die ihre und sagte erst auf deutsch, dann noch einmal auf englisch: »Darf ich Ihnen meine liebe Freundin Maybelle Houston vorstellen!« Und Maybelle, als wäre sie auf meinen Auftritt vorbereitet, zeigte mit dem Finger auf Abes Nase und sagte: »Darf ich vorstellen: Er ist der einzige Jude von Manhattan, der mich leiden kann.« Abe dagegen: »Und Maybelle ist der einzige Mensch in Brooklyn, dem ich meinen rechten Arm übers Wochenende ausleihen würde.« »Und wer bist du?« wandte sich Maybelle an mich; aber ehe ich die Kiefer aufklappen konnte, antwortete Abe: »Sebastian Lukasser, ein verirrtes Schaf, das noch meint, auf dem richtigen Weg zu sein.« Und sie: »Was heißt ›noch‹?« Und Abe: »Maybelle, ich lese zwischen deinen Augen und deinem Mund die Geschichte von Little Red Riding Hood und der Wolfsmutter, die mit ihren makellosen Zähnen ihr Junges am Nacken packt und in die Höhle schleppt, weil sie in Rotkäppchens Körbchen, zwischen Kuchen und Weinflasche, den Lauf einer Fünfundvierziger gesehen hat.« Und Maybelle zu mir: »In Wahrheit, Luke, bin ich die einzige Frau, bei der es Abe leid tut, daß er schwul ist.« Später meinte Maybelle, sie erinnere sich nicht an ein einziges Wort, das wir beide an diesem Abend miteinander gesprochen hätten, allerdings sei sie so stoned gewesen, daß sie sich an gar nichts erinnere. »Aber du hast dich an mich erinnert«, protestierte ich, »sonst hättest du mich doch nicht nach sechs Jahren in dem Café in der Bleeker Street sofort wiedererkannt!« »An dich, Luke, habe ich mich erinnert, ja«, antwortete sie, »aber von dir habe ich in einer nüchternen Nacht geträumt, lange bevor Abe deine Hand in meine gelegt hat.« Wenn sie mir zuhörte oder wenn wir im Fort Greene Park im Schatten des Prison Ship Martyrs Monuments, den Rücken an die Marmorsäule gelehnt, schweigend nebeneinandersaßen – was mich in unserer ersten Zeit irritierte –, bekam ihr Gesicht einen Ausdruck wie aus der Zeit entrückt, die Augenlider halb gesenkt, die Lippen, die im Profil so vornehm stoisch wirkten, zwei Millimeter voneinander getrennt, ein Bild wie erstarrte Trauer, so daß ich sie des öfteren fragte, woran sie denke und ob sie noch bei mir sei. Dieser Eindruck verlor sich augenblicklich, sobald sie zu sprechen begann. Ihre Stimme war kräftig und laut, und die Vokale sprangen innerhalb eines Wortes manchmal über eine Oktave hinauf und hinunter. Bald mochte ich es sogar besonders gern, wenn wir leer in die Luft starrten und nichts sagten und eigentlich auch nichts dachten – jedenfalls ich, soweit ich mich an meinen Teil erinnere.
»Maybelles Story« hatte mir Abe am Morgen nach der Party beim Frühstück erzählt, als ich ihn fragte, wie er und Mrs. Houston einander kennengelernt hätten – nicht die ganze Geschichte freilich hatte er mir erzählt. »Sie meint, sie habe eine große Schuld auf sich geladen«, deutete er an.
»Hat sie das?« fragte ich.
Er blickte mir auf die Stirn, als hätte ich zum wiederholtenmal den gleichen Fehler begangen und sagte. »Ich kann mir niemanden vorstellen, der sich weniger berufen fühlt, diese Frage zu beantworten, als ich.« Dabei war ihm anzusehen, daß er mit sich rang und daß der Vorwurf, den sein Blick mir zugeschoben hatte, eigentlich ihm selbst galt: ob er loyal zu seiner Freundin stehen und schweigen oder ob er sich der Köstlichkeit hingeben sollte, die im Erzählen einer guten Story bestand. Er entschied sich für die Loyalität.
Als Abe altersbedingt aus dem Lehrkörper der Columbia University ausschied, war ihm langweilig gewesen, er sei sich unnütz vorgekommen, und so habe er beschlossen, seine
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