Abendland
Schließfach Nummer 3462 in der Pennsylvania Station hinter dem Madison Square Garden in der Seventh Avenue.
»Ich brauche jemanden, dem ich vorlese«, sagte ich, »sonst fällt mir nichts zum Schreiben ein.«
»Auch in diesem Fall bin ich genau die richtige«, sagte Maybelle.
3
Howie Albert war ein ehemaliger Boxer, dessen Enkel ein gewalttätiger Dieb und ein Dealer gewesen war und den Maybelle, wie sich Mr. Albert in ihrer Gegenwart ausdrückte, vor Schlimmerem gerettet habe; heute arbeite der Enkel in Hoboken bei der New Jersey Around and Around, einer witzigen und sehr erfolgreichen Firma, die Rundreisen durch die Vereinigten Staaten organisiere, bei denen Touristen das schwarze Amerika gezeigt werde. Mr. Albert besaß ein kleines, weißes Holzhaus, nicht weit vom Fort Greene Park entfernt, das hatte er sich in seiner aktiven Zeit als Profiboxer gekauft. Inzwischen lebte er von »einer Art Rente«, die er aus einer Versicherung beziehe, außerdem sei er als »eine Art Berater« für verschiedene Boxclubs tätig. Was darunter zu verstehen sei, wußte Maybelle nicht. Die Gasse, in der Mr. Alberts Haus und sonst nur noch fünf weitere, ähnlich kleine Häuser standen, wurde von ihren Bewohnern »The Best of Chicken Bones« genannt, weil am Ende eine Hühnerbraterei war, deren Geruch mich in den nächsten anderthalb Jahren umgab, wann immer ich bei offenem Fenster in meinem Zimmer saß und an meinen Geschichten tippte, so daß meine Kleider nach Hühnergrill rochen und auch meine Haare und sogar meine Manuskripte. Mein Zimmer war im ersten Stock des Hauses, über der Garage, es war niedrig, eine Wand schräg, ein schmales Bett und ein Nachttischchen standen hier, weiters ein Tisch, ein Stuhl, ein Kleiderschrank, alles mattweiß und frisch gestrichen; der Boden bestand aus blaßgescheuerten, unbehandelten Dielen; Dusche und Toilette waren im Erdgeschoß, sie teilte ich mit Mr. Albert; außerdem durfte ich auch seine Küche benutzen. Er legte großen Wert auf Sauberkeit, aber daran gewöhnte ich mich nach wenigen Tagen. Er sprach mich mit Mr. Lukasser an und ich ihn natürlich mit Mr. Albert. Er war ein sehr dunkler, breitschultriger Mann mit ernsten, blutunterlaufenen Augen und einem hoch ansetzenden, weit vorstehenden Bauch; er hörte den ganzen Tag über Radio, drehte am Knopf, bis er eine Wortsendung erwischte, am liebsten hörte er Nachrichten; in der Nacht schaute er sich die politischen Sendungen im Fernsehen an, von Nightline mit Ted Koppel auf ABC versäumte er nicht eine Folge. Koppel nannte er den klügsten und aufrichtigsten Mann Amerikas, er würde sich gern einmal mit ihm unterhalten, inoffiziell, nur um zu erfahren, was er von verschiedenen Dingen des täglichen Lebens halte. Und weil Mr. Albert auf einem Ohr zu hundert Prozent, auf dem anderen zu vierzig Prozent taub war, war ich zu jeder Zeit über the News of the Day informiert – zum Beispiel die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Gabriel García Márquez, was mich freute, als hätte das schwedische Komitee mir persönlich einen Gefallen getan; oder den Tod von Leonid Breschnew oder das permanente martialische Sich-an-die-Brust-Schlagen von Präsident Ronald Reagan – dessen Launen und dessen Politik übrigens neben dem Wetter die einzigen Themen waren, über die Mr. Albert und ich uns unterhielten und vor denen er sich zu fürchten begann, als das Weiße Haus den Plan eines sechs Monate dauernden und am Ende siegreichen Atomkriegs gegen die Sowjetunion veröffentlicht hatte.
Ich führte das Leben, das ich mir erträumt hatte: ein Bohemien, ein Schriftsteller, die Berufung fühlend und der Berufung folgend; frei; bedürfnislos. Geld gab ich aus für Zigaretten – Mr. Albert mochte es nicht, daß ich im Haus rauchte, was meinen Konsum drastisch senkte – und für einmal in der Woche eine U-Bahn-Karte oder eine Buskarte nach Manhattan hinüber, wo ich in einer der Cafeterias um den Times Square oder in dem Bistro in der Madison Avenue, das einem Österreicher aus Graz gehörte, zwei weitere Dollar für einen Kaffee ausgab. Am Abend spazierte ich die Fulton Street hinunter, vorbei an den Backsteinhäusern, in denen zu der Zeit, als Carl in New York gewesen war, noch feine Herrschaften unter Kristallüstern diniert hatten und die jetzt, wenn überhaupt, von Neonröhren beleuchtet waren, vorbei an den Ulmen und Tannen in den Vorgärten, über deren Stämme Efeu wucherte; weiter über einen fahnengeschmückten Platz, dessen Name auf den
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