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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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bei einer Hochzeitskapelle in der Nähe von Augsburg als Ersatzmann für einen Geiger angemeldet und, nachdem er die Stelle bekommen hatte, mit eiserner Konsequenz einen langen Abend hindurch gegen alle Regeln gespielt, was ihm – hier setzte meine Phantasie ein – anfänglich großes Vergnügen bereitet, ihn schließlich aber in eine depressive Verdüsterung versetzt habe, weil trotz seines gegenteiligen Bemühens eben doch wieder nur engelsschöne Musik herausgekommen sei und er sich mit Schaudern habe eingestehen müssen, daß seine Person nur eines war, nämlich der Träger des Genius und nichts weiter … und so weiter und so weiter … – In einer weiteren Novelle wollte ich eine Begebenheit aus dem Leben meines Großvaters, Martin Lukasser, schildern, des Schrammelmusikanten auf der Contragitarre, der zu seiner Zeit in Wien so beliebt war wie kein anderer Volksmusiker und von dem in Neustift am Walde beim Fuhrgassl-Huber und in Hernals beim Vickerl in der Antonigasse noch heute je eine Fotografie hängt, in letzterem an der Hinterwand, wo die Spieler sitzen, 20 x 30 Zentimeter unter Glas in einem verzierten Rahmen neben Bildern von Anton Strohmayer, Josef Schrammel, Georg Dänzer mit dem picksüßen Hölzl und (!) Johann Strauß Sohn, alle in gleichem Format, in gleicher Größe, auf gleicher Höhe, aufgereiht unter einer originalgetreuen Kopie des bekannten Gemäldes von Johann Michael Kupfer, auf dem eine Heurigenszene zu sehen ist.
4
    An den frühen Nachmittagen stand Maybelle unten auf der Straße und rief meinen Namen. Gleich nach dem Lunch am Tisch ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns brach sie zu mir auf, kaufte unterwegs Sandwichs und Coca Cola ein, manchmal, wenn zu Hause etwas übriggeblieben war, packte sie ein Steak oder eine Portion Bacon and Beans in eine Styroporbox. Sie sorgte für mich. Daß mir Mr. Albert jeden Morgen eine Kanne Kaffee und zwei Donuts vor die Tür stellte und am Abend eine Flasche Milch, Obst und zwei Scheiben von dem Maisbrot, das ich einmal vor ihm gelobt hatte, rechnete ich ebenfalls dieser Sorge zu. Wir drückten uns an der Hühnerbraterei vorbei und überquerten einen freien Platz aus aufgerissenen Betonplatten, wo laternenhohe Birken aus den Ritzen wuchsen und Zementstaub, Glassplitter und Reste von Schalbrettern und verrostete Wehreisen alles bedeckten. Mr. Albert sagte, der Platz sei verflucht, schon ein halbes Dutzend Baufirmen sei hier mit Projekten gescheitert und bankrott gegangen, noch bevor der Dreck des jeweiligen Vorgängers weggeräumt worden sei. (»Wenn das wahr ist«, kommentierte Maybelle, »dann hat jemand ein Drittel von Brooklyn verflucht.«) Auf der anderen Seite des Platzes duckten wir uns unter dem Bauzaun hindurch – Maybelle konnte das so geschickt, daß sie sich weder an den Latten festhalten mußte noch sie überhaupt berührte – und landeten an der Carlton Avenue, unter deren Bäumen wir, entlang der wunderbaren alten Brownstone-Häuser mit ihren ausladenden Steintreppen, vorbei an Marktständen mit Blumen und einem Spalier sich grazil bewegender Angeber, bis zum Fort Greene Park gingen. Manchmal schob sie ihren Arm unter den meinen, aber höchstens für zehn Schritte und ohne mich dabei anzusehen. Sobald ich nach ihrer Hand griff, entzog sie sich mir. Wir betraten den Park durch das Südtor, schlenderten über die verschlungenen Wege zur Mitte, stiegen über die Stufen zum Monument hinauf und setzten uns an die Säule, auf deren Spitze eine riesige Urne thronte, die an die Männer erinnern sollte, die während der Revolutionskriege vor zweihundert Jahren in einem britischen Gefangenenschiff umgekommen waren – wie mir Mr. Albert erzählt hatte.
    Maybelle packte die Sachen aus, die sie mitgebracht hatte – Weißbrot ohne Rinde mit Schinken und mit Schweizerkäse und mit Turkey und mit Mozzarella –, schaute mir beim Essen zu und biß von mir ab und trank von meiner Cola. Wir hatten Aussicht über den Park bis zu den Spielplätzen mit ihren gelb-blau-roten Gitterburgen und zu den Tennisplätzen und dem Informationshäuschen, vor dem zwei alte Kanonen ihre Rohre auf uns richteten. Im Westen sahen wir das World Trade Center und die Spitze des Empire State Building über das Gebirge von Manhattan ragen. Unter uns auf den Stufen saßen Paare, Kinder liefen einander nach, Hunde beschnupperten sich gegenseitig. Maybelle breitete meine Lederjacke über die Marmorplatten, legte sich darauf und bettete ihren Kopf in meinen Schoß, faltete die

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