Abendland
Schildern mit Sprühdosen unkenntlich metallisiert worden war; besorgte mir in Joe’s Food Market an der Kreuzung Bedford Avenue und DeKalb Avenue ein großes Paket Waffelbruch (Nuß, Zitrone oder Schokolade) und zog, wenn die Abende lau und meine Laune heiter und mutig war, noch eine Runde durch die Gassen um das Atlantic Centre, wo keine einzige Laterne mehr funktionierte und ich nicht einem einzigen Menschen begegnete, als handelte es sich bei diesen Niederungen um einen heiligen Bezirk. Manchmal ging ich bis zur Brooklyn Heights Promenade hinunter und blickte, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, auf das funkelnde Diadem von Lower Manhattan und rauchte eine Zigarette und wurde wehmütig, weil ich beinahe körperlich spürte, wie mein kleiner Sohn und ich auseinandertrieben. Ich erkundete Reif um Reif meine Gegend, die an manchen Enden als nicht ungefährlich galt, weswegen ich auch meistens nicht allzulange ausblieb. Ich wußte, Mr. Albert konnte sich nicht gebührend auf seine Sendungen konzentrieren, bevor er mich nicht über die Treppe seines Hauses nach oben stampfen hörte. Es kam auch hin und wieder vor, daß er mich zu sich einlud, dann saßen wir schweigend und Chips kauend in seinem Wohnzimmer, jeder in einer anderen Ecke des gewaltigen Sofas, und schauten uns im Fernsehen einen alten Spielfilm mit Bob Hope oder James Cagney oder Bette Davis an oder eine Show oder ein Footballspiel. Manchmal kam ich schon um neun nach Hause, vollführte genügend Lärm, um ihm anzuzeigen, daß ich hier sei, schlich mich aber gleich wieder aus dem Haus und gesellte mich zu der Hip-Hop-Clique, die sich am Ende der Gasse am Hühnergrill ihre Rücken wärmte und dabei ihre Kunststücke trieb, um sich gelenkig zu machen für die bevorstehende Nacht. Die Stammkunden kannten mich bald, und wenn ich auftauchte, führten sie mir vor, was sie Neues einstudiert hatten. Da war zum Beispiel ein Brüderpaar, Zwillinge, wie sie behaupteten, nicht älter als sechzehn, der eine klein, der andere lang; die hatten Stimmen wie Howlin’ Wolf und John Lee Hooker (von denen sie, wie sie sagten, noch nie etwas gehört hatten), sie waren Meister des Sprechgesangs, es schien ihnen ein unausschöpfliches Reservoir an Reimen zur Verfügung zu stehen, und sie verstanden es, aus jedem Wortwechsel, jedem Gespräch, jedem Gelächter heraus einen Rhythmus zu filtern und ihn allen weiteren akustischen Äußerungen aufzuzwingen, so daß aus fast allem Musik wurde, und wenn sie erst genügend Musik in die Dinge gepumpt hatten, improvisierten sie aus dem, was gerade geredet wurde, ihre Verse. Die beiden nannten sich »Zippo« und »Old Gold«, der eine nach dem Feuerzeug, der andere nach der Zigarettenmarke, die sie bevorzugten … – Man mochte mich dort. Die Burschen hielten mir ihre Fäuste entgegen, und ich drückte meine Knöchel auf die ihren.
Die meiste Zeit aber saß ich in meinem Zimmer und schrieb. Ich lebte in der Welt der Geschichten, die ich mir ausdachte – oder die sich mir ausdachten –, lebte in der Euphorie, ein Storywriter zu sein, der in Brooklyn in einer extravaganten Gasse ein mönchisches Zimmer besaß, als wäre meine Existenz ebenso Teil meiner Phantasie wie die Figuren, die aus meiner Olivetti sprangen und deren Verstrickungen unter meinen Fingern täglich deutlichere Konturen zeigten. Ich stand früh auf, frühstückte, huschte in Mr. Alberts Badezimmer – wir beide suchten ein morgendliches Zusammentreffen möglichst zu vermeiden, und spätestens um neun saß ich an meinem Tisch.
Ein neues Projekt schwebte mir vor. Ich hatte bislang nur kurze Prosastücke geschrieben, die in keiner Beziehung zueinander standen (jene rund vierzig Kurzgeschichten ausgenommen, zu denen mich Dagmar animiert und die alle den zehnjährigen Jacob zum Helden hatten – die Manuskripte hatte ich Dagmar zu unserem Abschied geschenkt); nun wollte ich einen Kranz aus Novellen flechten, dessen einzelne Teile sich aber nicht über eine oder mehrere Figuren verbanden, sondern über ein Thema, nämlich die Musik. Musikanten sollte die Sammlung heißen und von unerhörten Begebenheiten einiger Musiker, Komponisten, Sänger, Songwriter erzählen. Die erste Geschichte, von der ich einen Entwurf fertigstellte, hatte den Titel: Ein Tag im Leben Mozarts, an dem er kein Genie war . Darin baute ich eine Anekdote aus, die ich einmal in einer Ausgabe der Gartenlaube aus dem Jahrgang 1892 gelesen hatte: Mozart habe sich eines Tages aus Jux unter anderem Namen
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