Abendland
Hände über ihrem Bauch, und ich las ihr vor, was ich geschrieben und ins Englische übersetzt hatte. Sie bat mich, eine Zigarette mit ihr zu teilen, einmal zog ich, dann berührte ich mit Zeigefinger und Mittelfinger ihre Lippen, und sie zog, dann zog wieder ich. An jenem Tag trug sie ein Kleid, dessen Farbe aus unzähligen winzigen verschiedenfarbenen Punkten bestand, bei denen an manchen Stellen die rosaroten, bei anderen Stellen die weißgelben, bei wieder anderen die lindgrünen in der Überzahl waren, was man aber nur sah, wenn man nahe genug war, und das wie ein Bild von Mondrian von strikt abgegrenzten horizontalen und vertikalen Streifen in Schwarz zergliedert war. Sie habe das Kleid in einem Secondhand-Shop in Tribeca für dreißig Dollar erstanden, erzählte sie stolz, es stamme aus den frühen sechziger Jahren und sei ursprünglich eine Courrèges-Imitation gewesen, sie habe einiges daran geändert, zum Beispiel Wesentliches an der Taille – der schwarze Gürtel sei ebenfalls ihre Idee, sie habe sicher ein Dutzend Geschäfte nach einem geeignetem Stoff durchwühlt, sich endlich aber für einen Lackgürtel entschieden –, auch den Ausschnitt habe sie verändert, und etwas gekürzt habe sie das Kleid auch, somit sei das Kleid ein Original, ein Unikat, und es müsse ihr ein Modeschöpfer schon ein erlesenes Angebot vorlegen, wenn er es abzeichnen wolle.
Durch irgend etwas – ich zerbrach mir den Kopf, was es wohl gewesen sein mochte – war eine störende Befangenheit in unsere Beziehung eingezogen. So aufregend ich ihre Nähe fand, und so ungeduldig ich jeden Mittag am Fenster stand und auf die bunten, in Hochglanz lackierten Haustüren und die scheckigen, mit Totems und Parolen geschmückten und mit Marihuanatöpfen bestückten Fassaden der Hippiehäuschen gegenüber schaute und auf sie wartete, war ich doch jedesmal erleichtert, wenn wir uns zwei Stunden später vor Mr. Alberts Haus verabschiedeten und ich wieder in meinem Zimmer war. Zugleich aber war ich überzeugt, daß nicht ich diese Fremdheit zwischen uns beiden verursacht hatte. In den Fältchen an den Winkeln ihrer Augen und zwischen ihren Brauen und in den beiden feingeschnittenen Kerben rechts und links ihres Mundes war die Haut fast schwarz, was ihren Gesichtszügen etwas Graphisches gab und ein wenig brüsk wirkte … – Es gelang mir nicht, auch wenn ich in schon beinahe unverschämter Weise dieses Gesicht studierte, darin zu lesen. Die Frau aus der Busgarage, die dem witzigen Abe eine witzige Kontrahentin gewesen war – die zerfallende Frau aus meinem Alptraum – die Frau im dunkelgelben Kleid und den dunkelgelben Schuhen, die Heldin für zwei Stunden aus dem Café in der Bleeker Street – und nun die Frau, die entweder eine Fremdheit ausstrahlte, die mir beinahe Ehrfurcht einflößte, oder die über Dinge plapperte, die mir allesamt belanglos erschienen; die Frau, die sich entweder um mich kümmerte wie um einen, der ihr höchsten Ortes anempfohlen worden war, oder die in mir den schmerzlichen Eindruck erweckte, ihre Gedanken seien weit weg von mir. Im Café hatten Maybelle und ich jeder über sich selbst gesprochen, durchaus so, als berichteten wir von einem anderen, einem zweiten Ich, das im Augenblick nicht anwesend war, feinnerviger, schrulliger, genialischer als wir selbst, das aber das eigentliche Ich war. Bei unserem zweiten Treffen bereits – sie holte mich in einem alten schwarzen Mercedes bei der Penn Station ab, um mich zu meiner neuen Unterkunft zu bringen – hielt ich es für um vieles wahrscheinlicher, daß meine Euphorie mir diese Nähe nur vorgegaukelt hatte. Zwei so unterschiedliche Menschen wie wir beide, wie sollten die sich nach wenigen Minuten ineinander verlieben? Während sie uns durch den Verkehr auf der 34. Straße zum Franklin Roosevelt Drive und über die Williamsburgh Bridge steuerte, redete sie ohne Unterbrechung, erzählte mir alles über ihr Auto – daß sie es von ihrem Schwiegersohn geschenkt bekommen habe, dem es ein pensionierter Offizier geschenkt hat, der während WW 2 in einer Kompanieschreibstube auf den Aleuten eine ruhige Kugel geschoben und von dort aus bequem und heimlich Adolf Hitler bewundert habe und bis zu seinem Tod jeden Freitag in den Gym gekommen sei, um sich das Boxen anzusehen, so verliebt sei er in die Muskeln junger schwarzer Männer gewesen; daß der Wagen im Jahr 1960 in Sindelfingen, Germany, gebaut worden sei, ein originaler Mercedes Benz 190 Ponton, der inzwischen schon
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