Abendland
ein gutes oder nur ein mittelmäßiges Gedicht ist.«
»Es ist eines der schönsten Gedichte Amerikas«, sagte ich.
»Ich möchte aber doch lieber, daß du mir in Zukunft nur noch Sachen von dir vorliest«, sagte sie. »Und ich finde es besser, du liest sie mir nicht vor, wenn wir im Bett liegen. Ist das okay für dich, Luke?«
Wir blieben drei Nächte in dem Motel. An den Tagen spazierten wir durch die rostfarbenen Laubwälder am Hudson entlang oder besuchten das Haus von Präsident Roosevelt in Hyde Park, bewunderten den Rosengarten, der inzwischen zwar schon abgeerntet war, aber immer noch eine Heiterkeit ausstrahlte, als herrschte hier in allem eine frühlingshafte Erwartung. Maybelle erzählte mir, der Präsident sei im Rollstuhl gesessen, aber er habe einen Oberkörper gehabt wie ein Boxer, er selbst habe gesagt, diesbezüglich könne er sich mit Jack Dempsey vergleichen, und Amerika wisse bis heute, sagte sie, daß der beste aller Präsidenten hier, im Rosengarten seines Hauses, seine Muskeln trainiert habe.
Am vierten Tag sagte Maybelle, nun müsse sie nach Hause, sonst sorge sich ihre Tochter um sie. Sie bezahlte alles. Ich wollte das nicht, und es gab einen Wortwechsel deswegen.
»Was denkst du, was ich mir dabei denke!« empörte ich mich.
»Das weiß ich nicht. Wenn es wichtig ist, was du dir denkst, verrate es mir.«
»Ich werde mir einen Job suchen!« sagte ich.
Da sagte sie wieder: »You can’t do that to me, Luke!«, und wieder füllten sich ihre Augen mit Wasser, und ich war nicht darauf gefaßt gewesen, hatte mich wieder einmal von ihrem ausdruckslosen Blick täuschen lassen und hatte auch nicht die geringste Ahnung, was daran zum Weinen sein sollte, wenn ich mir einen Job suchte, und sagte das auch.
Sie erklärte es mir sehr genau: »Es wird eine Zeitlang dauern mit uns, und irgendwann wird es vorbei sein. Aber ich möchte mir hinterher nicht vorhalten, ich habe ihm die Zeit gestohlen, die er gebraucht hätte, um sein Buch zu schreiben. Ich möchte, daß du sagst, ohne sie hätte ich mein Buch nicht schreiben können. Das hätte ich wirklich gern, Luke. Und am liebsten hätte ich, wenn das irgendwo in dem Buch drinstehen würde, vorne oder hinten, das ist mir egal. Ich glaube nämlich an Jesus. In Brooklyn glauben viele an Jesus, ich bin eine davon. Du auch, Luke?«
»Was soll ich sagen, wenn ich ehrlich sein soll? Und was hat Jesus mit einem Buch zu tun, das ich eventuell irgendwann einmal schreiben werde?«
»Ich hätte gern, daß du mich brauchst, Luke. Das ist es, nur das, Luke.«
Ich schrieb. Allerdings ohne große Ambition, daß ein Buch daraus werden sollte. Den Novellenzyklus hatte ich aufgegeben. Maybelle fragte immer wieder danach. Sie machte sich Sorgen deswegen. Sie meinte, ich verplempere meine Zeit. Von den kleinen Dingen, die ich in mein Notizbuch schrieb, erzählte ich ihr nicht. Wer bitte sollte sich für eine Sammlung erster Sätze interessieren?
Ansonsten ging alles so weiter wie bisher. Maybelle holte mich mittags ab, wir spazierten in den Park, aßen, redeten. Eines Abends klickte ein Steinchen an mein Fenster. Sie stand unten auf der Straße und winkte mir zu. Ich huschte in Strümpfen über die Treppe hinunter, aus Mr. Alberts Wohnzimmer hörte ich den Fernseher, öffnete vorsichtig die Tür, Maybelle schlüpfte aus ihren Schuhen und ging vor mir her zu meinem Zimmer hinauf. Sie stellte den Wecker, den mir Mr. Albert zum Geburtstag geschenkt hatte, sperrte die Tür ab und führte mir vor, wie man einen mächtigen Orgasmus haben kann, ohne einen Laut von sich zu geben. Mr. Albert war vielleicht zwanzig Jahre älter als Maybelle, und ich war achtzehn Jahre jünger als sie, und daß sie sich in Mr. Alberts Haus schlich und wir es heimlich wie Teenager miteinander trieben, war natürlich komisch, für einen Außenstehenden mußte das zum Lachen gewesen sein. Aber damals war es nicht lächerlich für mich, nicht komisch, und ich war tatsächlich gerührt, eben weil gar nichts Romantisches daran war, sondern weil es die einzige Möglichkeit war, die Maybelle sah, bei mir zu sein, ohne ihren Freund Mr. Albert vor den Kopf zu stoßen oder im Haus ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes eine lästige Debatte auszulösen. Sie schlief bei mir bis in den frühen Morgen, dann schlich sie sich wieder aus dem Haus. Und so hielten wir es von nun an fast jede Nacht.
Ende November sagte sie: »Gil und Becky fahren über Thanksgiving nach Connecticut, du kannst zu mir
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