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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Nase rümpften, weil sie ihnen zu »neumödisch« klangen, war die Begeisterung bei der tatsächlich neuen Musik einhellig – wahrscheinlich, weil diese Klänge gar nicht mit einer vorhandenen Vorstellung von Musik zusammengebracht wurden; was meinem Vater nur recht war.
    Zuerst war allein dieses eine Konzert vorgesehen gewesen, aber immer mehr Veranstalter interessierten sich für die Musik dieses »bunten Vogels aus Nofels«. Konzerte an anderen Orten in Vorarlberg wurden vereinbart, schließlich auch in der Schweiz, in Liechtenstein und in Süddeutschland. Das lokale Radio lud meinen Vater zu einer Sendung ein. Eine Stunde lang wurde er interviewt, dazwischen einige Stücke seines Chors gesendet. Meine Mutter und ich saßen zu Hause in der Küche, die Arme auf der Tischplatte verschränkt, den Kopf schief über dem Radioapparat. Er sprach in gemäßigtem Tempo und charmanten Wendungen, erzählte und erzählte alles mögliche – nur, verdammt noch mal, nicht, daß er in Wien der begehrteste, weil mit Abstand beste Jazzgitarrist gewesen war, und erwähnte auch mit keinem Wort, daß er in New York mit Barney Kessel und John Coltrane gespielt hatte und fast ein Jahr lang mit Chet Baker durch die Vereinigten Staaten von Amerika gezogen war. Meine Mutter und ich waren baff! Warum stellte er sich in den Hintergrund? Schließlich war er ein Weltklassemusiker, spielte in einer Liga mit Wes Montgomery und Django Reinhardt! Daß er sich hier, in dieser Provinz, mit einem Laienchor abgab, hätte vom Reporter wenigstens mit Staunen kommentiert werden müssen, vorausgesetzt, der Reporter hatte auch nur einen blassen Schimmer vom Jazz. Mein Vater hatte ihm vor der Sendung keinen Hinweis auf seine bisherige Karriere gegeben. Meine Mutter und ich waren voll Sorge gewesen, daß er auf seine panisch ungeschickte Art angeben würde; nach der Sendung sorgten wir uns, weil er nicht angegeben hatte. Wir rätselten, was diese Zurückhaltung bedeutete. Meistens, wenn wir nicht wußten, was etwas bedeutete, hatte es etwas Schlechtes bedeutet.
    Ja, mein Vater hatte sich vom Jazz verabschiedet. (Nur einmal noch ließ er sich auf diese Musik ein – wenn man von den Konzerten absieht, die er gelegentlich im Treppenhaus der Familie Lukasser vor Frau und Sohn gab; wenige Monate vor seinem Tod spielte er zusammen mit Toots Tielemanns in einem Studio in Zürich, und das auch nur, weil ihn Toots in fast einem Dutzend Briefe darum gebeten und ihm versprochen hatte, selbst nicht auf der Gitarre, sondern nur auf der Mundharmonika zu spielen.) Sicher wäre der Bruch nicht so radikal ausgefallen, wenn nicht ein junger Mann namens Walfried Andergassen bei uns aufgetaucht wäre. Walfried Andergassen – er hatte die Schreibweise seines Namens in »An der Gassen« geändert – war noch nicht dreißig; in Feldkirch geboren und aufgewachsen, hatte er in Wien, Köln und Paris Musik studiert. Er spielte passabel Klavier, hatte auch versucht zu komponieren, war aber in beidem vor seinen Ansprüchen gescheitert und sah sich inzwischen nur noch als Theoretiker. Seit seiner Studienzeit besuchte er regelmäßig die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, dieses alle zwei Jahre stattfindenden Treffen der musikalischen Avantgarde; seit kurzem gehörte er dem Programmbeirat an, der den Leiter des IMD (Internationales Musikinstitut Darmstadt), Ernst Thomas, in der Erarbeitung von Vorschlägen unterstützte. An der Gassen war beim Anhören der Musik meines Vaters außer sich geraten; er müsse, bestürmte er ihn, unbedingt in zwei Jahren (das meinte 1974) zu den Kursen kommen, um dort seine Musik vorzustellen. Mein Vater schrieb mir einen Brief nach Frankfurt – den einzigen, den ich je von ihm bekommen habe –, in dem er mich bat, Informationen über das IMD und seinen Leiter einzuholen und mich nach den Komponisten und Musikern zu erkundigen, die in den vorangegangenen Jahren dort aufgetreten waren – ob das etwas Seriöses sei oder »eben wieder nur so ein Blödsinn«. Ich fuhr nach Darmstadt und erkundigte mich an Ort und Stelle im Schloß Kranichstein, wo die Musiktage stattfanden; und kehrte mit großem Respekt vor meinem Vater zurück, denn ich hatte erfahren, daß nur die Besten der Allerbesten dorthin eingeladen würden, um ihre Kunst zu präsentieren.
    In den folgenden zwei Jahren arbeitete mein Vater an der Musik, die er in Darmstadt vorspielen wollte. Walfried An der Gassen war sein Assistent – sein Assistent, sein Schülerlehrer,

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