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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gewißheit nichts mit unseren Argumenten zu tun. Nach der Sendung fuhr ich gemeinsam mit ihr im Taxi in die Stadt, und wir setzten uns in der Bar des Imperial in eine Nische und tranken etwas, sie Rotwein, ich Jasmintee. Sie hieß Sabine und war verheiratet. Sie gab mir ihre, ich gab ihr meine Handynummer, und wir versprachen einander, anzurufen. Beim Taxistand vor dem Imperial küßten wir uns, öffneten dabei die Lippen, sie berührte meine und ich berührte ihre Zunge, ein schneidender Wind blies, der in unseren hohlen Mündern leise aufheulte. – Sie hat mich nicht, ich habe sie nicht angerufen.)
    »Ich wohne im Sechzehnten«, sagte Chucky. »Treffen wir uns zum Mittagessen im Café Vorstadt, Ecke Herbststraße Haberlgasse. Um zwölf.«
    »Das will ich nicht«, sagte ich. »Ich werde selbstverständlich nicht kommen.«
    Eine Weile war es still. Schließlich fragte er: »Gibt es eine palästinensische Botschaft in Wien?«
    »Herr Rottmeier«, sagte ich, »vor zweiundzwanzig Jahren in Frankfurt haben Sie mir einfach keine andere Wahl gelassen, als Sie zum Narren zu halten. Ich bitte Sie, dieses Spiel nicht noch einmal mit mir zu spielen. Damit auch ich nicht noch einmal so ein Spiel mit Ihnen spielen muß.«
    Wieder ignorierte er, was ich gesagt hatte. »Sie sind ein bekannter Schriftsteller, man hat Sie im Fernsehen gesehen. Ich möchte nur, daß Sie mich zur palästinensischen Botschaft bringen. Alles weitere ist nicht Ihr Problem.«
    Ich legte auf. – Was auch immer folgen wird, dachte ich, den weitaus größeren Teil meines Lebens werde ich in jedem Fall nach meinem Willen und meinem Plan geführt haben, auch wenn beide meistens doch nur aus purer Wirrsal bestanden hatten.

Interlude
    Am Anfang meiner Unternehmung dachte ich noch, es wird sich ein richtiger Zeitpunkt finden, um vom Tod meines Vaters zu erzählen. Aber diese Tragödie läßt sich in keine Dramaturgie zwängen. Ich kann das nicht. Sie sträubt sich gegen einen Zusammenhang. Sie widersetzt sich gar der Chronologie. Ich will nun hier von ihr berichten, und so als wäre sie eine Geschichte für sich. Und das ist sie ja auch.
    Womit beginnen? Und wann? – In San Diego 1964.
    Während der Tournee mit Chet Baker war mein Vater im Süden von Kalifornien dem Komponisten Harry Partch begegnet, und der hatte ihn zu sich in sein Haus eingeladen, wo sich die beiden einen Tag lang und bis tief in die Nacht hinein über Musik unterhielten. Chet Baker und die übrigen Mitglieder der Band, Joel Jahoda, Chris Turner und Marcus Kreil, hatten ursprünglich mitgehen wollen, waren aber im Suff abgestürzt oder hatten einfach Schiß gekriegt, weil Partch im Ruf stand, alle anzuschnorren, die sein Haus betraten. Das Gegenteil war der Fall, Mr. Partch war ein liebenswürdiger, aufmerksamer Gastgeber, der Rücksicht darauf nahm, daß mein Vater keinen Alkohol trank. Er zeigte ihm die Instrumente, die er selbst gebaut hatte, weil er auf den herkömmlichen Instrumenten seine Mikrotonleiter aus dreiundvierzig Intervallen per Oktave nicht bedienen und vor allem nicht die Klänge erzeugen konnte, die er in seinem Kopf hörte. Er spielte ihm vom Tonband einige seiner Kompositionen vor – The Wayward , The Bewitched , Delusion of the Fury … Mein Vater war erschüttert. Er war wirklich erschüttert. Ihm war zumute, als hätte dieser Mann, der viele Jahre als Landstreicher durch die USA gezogen war, ihm klipp und klar bewiesen, daß alles, was er bisher gemacht habe, »Scheiße« sei. Aber gleichzeitig habe er zum erstenmal in seinem Leben die Musik gehört, nach der er immer gesucht habe. Partch hatte ihm erklärt, daß die Inspiration zu vielen seiner Stücke beliebige Gespräche gewesen seien, die er zufällig mit angehört habe. Er sei von den konventionellen Tonleitern, auch der dodekaphonischen, abgekommen, als er versucht habe, die Melodik von Sprechstimmen wiederzugeben. Der Ursprung aller Musik sei die menschliche Stimme; jedes Instrument ahme einen Aspekt der menschlichen Stimme nach, und die der menschlichen Stimme ureigene Ausdrucksform sei das Gespräch. Der Gesang sei bereits eine Abstraktion, ein Filtrat; auch der Gesang ahme die gesprochene Sprache nach, vergrößere, übersteigere und isoliere die jedem natürlichen Sprechen innewohnenden Melodien – nichts anderes leiste der Gesang. Das Gespräch, je näher am alltäglichen Verkehr, um so besser, sei die Urmusik; ihr spüre er in seinen Kompositionen nach, erklärte Harry Partch meinem Vater. Die Melodien

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