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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sein Kritiker, seine Putzfrau, sein Chefideologe, der Deuter seiner Äußerungen, sein Puppenspieler, sein Dr. Frankenstein – sein neuer Carl Jacob Candoris, mit dem Unterschied, daß er ihm kein Geld zukommen ließ, denn Walfried An der Gassen besaß selbst so wenig davon, daß meine Mutter mutmaßte, er inszeniere das Brimborium nur, um regelmäßig an eine warme Mahlzeit zu kommen; tatsächlich wohnte er in diesen zwei Jahren manchmal über Monate in unserem Haus in Nofels. Ich habe ihn bei einem meiner Besuche kennengelernt – ein gedrungener Mann, der kleiner wirkte, als er war, was er einem kurzen, breiten Hals und zwei im rechten Winkel zum Schädel abstehenden Ohren verdankte; ein nach Rasierwasser riechender Mann mit Kurzhaarschnitt und abgekauten Fingernägeln, der nach jedem Satz geräuschvoll die Luft in die Nase zog; übernervös, voll von Ideen, witzig und schnell im Kopf. Meine Mutter und mich behandelte er ausschließlich unter einem Aspekt: Anhang von Georg Lukasser. Es verging kein Gespräch mit ihm, in dem er uns nicht klarzumachen versuchte, mit was für einem Genie wir unter einem Dach lebten. »Das wissen wir längst«, sagte ich. Er zog eine Braue hoch und blickte mich an, als würde ich Lagerobst verkaufen wollen. »Vergiß den Jazz, Sebastian!« sagte er. »Er hat ihn längst vergessen, tu’s du auch!« Ich setzte dem Herrn An der Gassen auseinander, was er, wenn er sich in einschlägigen Kreisen, zum Beispiel in New York, nach George Lukasser erkundigte, dort zu hören bekomme; einmal wurde ich beinahe ausfällig: Weder meine Mutter noch ich würden es dulden, wenn hier einer eine Gehirnwäsche an Ehemann und Vater vorzunehmen beabsichtige. Nicht New York sei der Olymp, konterte Herr An der Gassen lässig nachsichtig lächelnd, sondern Darmstadt, Darmstadt; Mister John Cage komme aus New York nach Darmstadt, Darmstadt; Monsieur Pierre Boulez komme aus Paris nach Darmstadt, Darmstadt; Signor Luigi Nono komme aus Rom nach Darmstadt, Darmstadt. Úr György Ligeti komme aus Budapest nach Darmstadt, Darmstadt; Pan Krzysztof Penderecki komme aus Warschau nach Darmstadt, Darmstadt; Señor Mauricio Kagel komme aus Buenos Aires nach Darmstadt, Darmstadt …
    »Aufhören! Aufhören!« schrie mein Vater. »Bitte aufhören, bitte!«
    Die Gibson rührte er nicht mehr an; nicht in den zwei Jahren, in denen er sich auf die Internationalen Ferienkurse vorbereitete. Er mied den Kontakt zu Carl. Es kam oft genug vor, daß er sich von meiner Mutter verleugnen ließ, wenn Carl anrief. Und als Carl und Margarida uns einmal während der Semesterferien besuchten und meinen Vater baten, ihnen doch zu erzählen, mit was für einer Art von Musik er sich zur Zeit beschäftige, knurrte er nur etwas von »ausprobieren« und »eh ein Blödsinn« und erfand Ausreden, um sie nicht in die Scheune führen zu müssen. Carl war zornig. Er sagte aber nichts. Als Margarida ihren Besuch am Telefon angekündigt hatte, war mein Vater vor meiner Mutter und mir auf die Knie gegangen und hatte uns mit gefalteten Händen angefleht, vor Carl ja nicht die Worte Walfried An der Gassen und Darmstadt auszusprechen.
    Walfried An der Gassen hatte großen Einfluß auf ihn, er konnte ihm vieles einreden; aber er konnte meinem Vater nicht einreden, etwas sei gut, was dieser für schlecht hielt. Und für schlecht hielt mein Vater bereits die Wiederholung des Guten. Nach einem Jahr der Experimente kam er dahinter, daß die »Sprechmelodiemethode« – eine Worterfindung An der Gassens – nicht schulfähig war. Alle Stücke, die er inzwischen nach dieser Methode komponiert hatte, ähnelten dem ersten. Er warf kurzerhand sämtliche Unterlagen der anderen Stücke ins Feuer – Notenblätter, Buntstiftzeichnungen, Tonbänder. Ich kann mir genausogut vorstellen, ich fahr von jetzt an mit dem Bus in die Stadt, weil, was soll ich mich durch das Churertor drücken und dann find ich eh keinen Parkplatz am Marktplatz – das wolle er vorführen, dieses Stück und nur dieses sei die Quintessenz seines Lebens als Musiker. An der Gassen, der erst entsetzt gewesen war, begeisterte sich bald an dem Gedanken. Das Minimalistische, das gegen null Tendierende hatte es ihm angetan. (Ich war der Meinung – und bin es immer noch –, daß seine gesamte Theorie auf einen Rachefeldzug gegen die im Überfluß Begabten hinauslief.) Nachdem im Programm der Internationalen Ferienkurse 1974 bereits angekündigt war, daß der Komponist Georg Lukasser einen Abend

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