Abendland
eines Gesprächs seien immer authentisch, immer originell, mögen der Inhalt belanglos oder die Sprecher Lügner sein – in diesen Fällen hörten wir eben die Melodien der Belanglosigkeit und der Lüge.
Als mein Vater später am Gymnasium unterrichtete und soviel Freude an der Leitung des Chores hatte, kam ihm der Gedanke, mit Harry Partchs Theorien zu experimentieren; zunächst gar nicht mit der Absicht, daß dabei Musik herauskomme, er hatte einfach »Lust zu basteln« – Lusthaben bedeutete bei meinem Vater immer Zwang. Er besorgte sich ein Aufnahmegerät und ließ es bei den Proben mitlaufen. Aber nicht der Gesang interessierte ihn, sondern was die Chormitglieder in den Pausen miteinander redeten. Er vermutete nämlich, daß Menschen, die sich zusammenfanden, um zu singen, in den Gesangspausen anders redeten als üblich, nämlich »irgendwie musikalischer«; daß die jedem natürlichen Sprechen innewohnenden Melodien in solchen Momenten »aufschwellen« und somit leichter zu erkennen und aus dem Zusammenhang zu lösen seien. Stunden über Stunden saß er zwischen dem Unterricht am Gymnasium und den abendlichen Chorproben in der Scheune, die er mit Hilfe einiger Chormitglieder zu einem Studio ausgebaut hatte, und hörte die Bänder ab auf der Suche nach einer »Urmelodie«.
Das erste Stück seiner »neuen Musik« trug den Titel:
Ich kann mir genausogut vorstellen, ich fahr von jetzt an mit dem Bus in die Stadt, weil, was soll ich mich durch das Churertor drücken und dann find ich eh keinen Parkplatz am Marktplatz.
Und das war bereits der gesamte Text des »Librettos«. Der Satz war von einem Mann gesprochen worden, der in Nofels wohnte und in der Stadt in einer Steuerberaterfirma arbeitete und im Chor eine der Baritonstimmen sang. Mein Vater hatte den Gesprächsfetzen aus gut zwölf Stunden Tonband herausgepickt. (Der Mann hatte den Satz zu meinem Vater gesagt und aus diesem Grund auf hochdeutsch; er wußte ja, daß mein Vater Schwierigkeiten hatte, den Vorarlberger Dialekt zu verstehen.) Er analysierte die Melodie dieses Satzes, entwickelte aus der Melodie eine zweite, dritte und vierte Stimme und setzte sie in Noten für den Chor. Die herkömmliche Notation ließ sich nur unzureichend verwenden; also zeichnete er die Melodiebögen mit verschiedenen Farbstiften auf Papier und sagte den Sängern, sie sollten sich nicht um Tonhöhe oder Takt kümmern, sondern jede Gruppe, die eine Stimme singe, solle selbst herausfinden, welche Tonhöhe und welcher Rhythmus für sie die geeigneten seien; Gespräche zwischen verschiedenen Leuten würden ja auch nicht vorher »gestimmt«, im Sinne von: heute reden wir in A-Dur oder in c-moll. Er erweiterte sein Equipment, indem er für wenig Geld vom Rundfunk drei ausgediente, aber intakte Aufnahmemaschinen erwarb und dazu ein Mischpult; so konnte er die verschiedenen Stimmen, die von jeweils fünf bis sechs Sängern und Sängerinnen erarbeitet worden waren, in einem Verhältnis zusammenbringen, wie es ihm behagte. Das Ergebnis war die Vorlage für das endgültige Stück, das schließlich mit dem Chor einstudiert wurde.
Es war eine Sensation. Zunächst nach innen. Der Chor und sein Leiter erlebten einen Motivationsschub, der dazu führte, daß eine Zeitlang nicht nur einmal in der Woche, sondern jeden Abend geprobt wurde. Die Partner mancher Chormitglieder protestierten; mein Vater lud sie ein, ebenfalls mitzusingen. Es sprach sich herum, daß in dem Dorf Nofels eine aufregende Musik erfunden werde; täglich riefen Leute an oder kamen vorbei, sie wollten mitmachen. Bald trafen sich in unserer Scheune ein- bis zweimal in der Woche fünfzig bis sechzig Männer und Frauen. Und mein Vater komponierte – »bastelte« – weiter, schürfte weiter Musik aus Gerede und verfeinerte das Verfahren, das gewonnene Erz zur Vielstimmigkeit zu veredeln.
Es gelang ihm – unterstützt durch meine Mutter –, den Leiter der Arbeiterkammer zu überreden, den Saal für eine Vorführung zur Verfügung zu stellen. Zwei Drittel des Programms bestand aus herkömmlicher Chormusik, ein Drittel aus »neuer Musik« – wobei auch der erste Programmteil für die meisten Zuhörer verrückt neu war, weil er aus Stücken bestand, die zwar den meisten bekannt waren – Am Brunnen vor dem Tore , In Muatters Stübele , Der Mond ist aufgegangen und andere –, die mein Vater aber jazzig arrangiert hatte. Der Abend wurde ein großer Erfolg. Wenn einige Zuhörer bei den »herkömmlichen« Liedern noch die
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